Testabschuss einer Hyperschallrakete © picture alliance/dpa/KCNA

Partieller Friede - globale Ungerechtigkeit?

Stand: 01.04.2022 16:50 Uhr

Vor 40 Jahren war die Angst vor einem apokalyptischen Atomkrieg sehr präsent. Die Drohungen Wladimir Putins zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine haben diese fast vergessene Gefahr wieder ins Bewusstsein gebracht.

von Ulrich Kühn

Ein Essay von Ulrich Kühn, Leiter des Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und Neue Technologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Uni Hamburg.

Am 10. Juni 1982 fand in den Rheinauen der damaligen Bundeshauptstadt Bonn eine Friedensdemonstration mit etwa 500.000 Menschen statt. Der Kalte Krieg hatte mit dem NATO-Doppelbeschluss einen neuen Krisenhöhepunkt erreicht. Joseph Beuys dichtete und sang aus diesem Anlass das Lied "Sonne statt Reagan" - in Anspielung auf den damaligen US-Präsidenten. Die Angst vor dem Atomkrieg trieb die Menschen zu Hunderttausenden auf die Straße.

Fast genau 40 Jahre später, am 5. März, sind wieder Hunderttausende Deutsche auf den Straßen. Ihr Protest gilt Russlands brutalem Überfall auf die Ukraine. Nur vereinzelt werden Plakate gegen Atomwaffen in die Höhe gehalten. Viele Protestierende waren auch schon bei den "Fridays for Future"-Demonstrationen.

Auf den ersten Blick scheinen der Krieg in der Ukraine und die Gefahren, die von Nuklearwaffen oder vom Klimawandel ausgehen, eher disparate Themen zu sein. Ihr verbindendes Element ist jedoch der sogenannte "nukleare Frieden", der im Kern ein globales System der Ungerechtigkeit perpetuiert.

Das nukleare Paradoxon

Seit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 gab es keine konventionellen Kriege zwischen Großmächten mehr und damit auch keinen dritten Weltkrieg. Nuklear bewaffnete Staaten drohen einander zwar, belauern oder verurteilen sich, belegen sich mit wirtschaftlichen Sanktionen - den großen militärischen Kampf scheuen sie jedoch, da dieser, so die Vermutung, schnell die nukleare Schwelle überschreiten könnte. Auch wenn sich eine wissenschaftlich belegbare Kausalität aus Großmachtfrieden und Nuklearzeitalter nicht nachweisen lässt, scheint doch mindestens eine Korrelation aus nuklearer Abschreckung und partiellem Frieden zu bestehen. Auch heute scheinen diese bekannten Mechanismen zunächst zu greifen.

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Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Russlands Überfall und die Folgen

Am 24. Februar 2022 begann der Angriff. In der Ukraine starben mindestens 10.000 Zivilisten. mehr

Putin hat die NATO zwar bedroht; bis jetzt wagt er aber nicht den Schritt zum offenen militärischen Konflikt mit dem Bündnis - wie umgekehrt auch die NATO nicht. Die Nuklearwaffen des Westens schrecken Putin ab. Russlands Nuklearwaffen schrecken die NATO ab. Die Ukraine dagegen, bar jeglicher nuklearer Verteidigung, konnte den russischen Überfall nicht abschrecken und befindet sich in einem blutigen Mehrfrontenkrieg gegen die Invasoren.

Bereits der Kalte Krieg war von diesem Paradoxon gekennzeichnet. Während zwischen NATO und Warschauer Pakt eine auf zehntausenden Sprengköpfen aufgebaute prekäre Stabilität herrschte, versanken einzelne Länder an der geographischen Peripherie des kalten Großkonflikts immer wieder in kriegsbedingter Instabilität. Auch damals mischten die Mächte nach Kräften mit und unterstützten militärisch und logistisch hier den Vietkong oder dort die Mudschaheddin. Wo Konflikte innerhalb der eigenen Einflusssphäre ausgetragen wurden - wie beim Einmarsch des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei 1968 -, hielt man sich von außen zurück. Die Gefahr der Eskalation durch Einmischung erschien als zu groß.

Eine nukleare Krise unter veränderten Vorzeichen

Ob das nukleare Paradoxon - oder sagen wir es klarer: ob die damit verbundene Ungerechtigkeit - auch heute noch den historisch gewachsenen Umgang mit nuklearer Abschreckung bestimmt, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Einiges deutet jedoch darauf hin, dass die gerade beginnende nukleare Krise unter deutlich veränderten Vorzeichen abläuft.

Da wäre zunächst die räumliche und damit auch kulturelle Nähe. Der Krieg in der Ukraine findet nicht fernab in den Instabilitätszonen Asiens, sondern mitten in Europa statt. Die Flüchtenden zählen zu unserem Kulturkreis. Einhergehend mit der räumlichen Nähe steigt auch die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Auseinandersetzung, dort, wo NATO- und russische Truppen in direkter Grenznähe operieren. Weiterhin geht es dem Kreml um die direkte machtpolitische und territoriale Beanspruchung ukrainischen Gebiets. Dass der Westen diesen Anspruch nicht anerkennt und sich zurecht auf die auch von Moskau unterzeichnete Charta von Paris aus dem Jahr 1990 beruft, ist Teil der Konfliktkonstellation.

Dieses Ringen um ordnungspolitische Strukturen, um Geltung und Sicherheit in direkter geographischer Nähe treibt wiederum die Interessen in die Höhe, wobei diese auf russischer Seite noch ungleich höher sein dürften.

Eine neuartige Informationsdimension

Schließlich hat der Krieg in der Ukraine auch eine neuartige Informationsdimension. Vermittelten während des Kalten Kriegs noch zeitlich begrenzte Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen sowie politisch kuratierte Tageszeitungen etwa das Kriegsgeschehen in Vietnam, machen heute unzählige Clips, Fotos, offene Diskussionsforen und frei zugängliche Satelliten- oder Flugdaten den Krieg scheinbar in Echtzeit rund um die Uhr für jedermann erleb- und kommentierbar. Damit wächst die emotionale Bindung breiter Bevölkerungsschichten.

Hinzu kommt, dass die neue Art, sich Informationen zu verschaffen, in Teilen auf eine in den Friedensjahren nach dem Kalten Krieg politisch sozialisierte Generation trifft - die heute wichtige Schaltstellen medialer und politischer Macht innehat. Diese Generation scheint weit stärker normativen Idealen wie Freiheit, Inklusion und Gleichstellung verpflichtet und weit weniger gewillt, offensichtliche Ungerechtigkeiten einem diffusen Sicherheitskonzept wie der nuklearen Abschreckung unterordnen zu wollen. Dies mag Rufe nach einer von der NATO zu erkämpfenden Flugverbotszone über der Ukraine erklären - die ja bewusst oder unbewusst die russische nukleare Abschreckung ignorieren oder kleinreden.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 02.04.2022 | 13:00 Uhr

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Europa-Politik

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