Offener Brief an Scholz: Katja Lange-Müller distanziert sich
Ende vergangener Woche haben Prominente einen offenen Brief an Kanzler Scholz geschrieben mit dem Appell, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern. Auch die Schriftstellerin Katja Lange-Müller hat den Brief unterzeichnet - nun distanziert sie sich von einem Teil des Briefes.
Frau Lange-Müller, welche Teile von diesem Brief befürworten Sie nach wie vor, und wovon distanzieren Sie sich?
Katja Lange-Müller: Ich versuche das Richtige von der einen Seite und das Richtige von der anderen Seite zu sehen. Es nützt ja nichts, wenn wir immerzu nur als diese Spaltpilzzüchter auftreten: Die einen beschimpfen die anderen, und irgendwie gerät völlig aus dem Blick, worum es eigentlich geht. Natürlich muss man versuchen, mit Augenmaß vorzugehen, und natürlich verhält sich der Kanzler aus meiner Wahrnehmung richtig, indem er meint, dass man der Ukraine mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln helfen muss. Aber man darf dabei die Gefahr nicht übersehen. Der dritte Weltkrieg wird mit jedem Tag wahrscheinlicher, und wir beharken den Bundeskanzler und einander mit rechthaberischen Meinungen darüber, ob Deutschland schwere Waffen liefern soll oder nicht. Die eine Fraktion von Intellektuellen widerspricht der anderen, und dabei gerät das eigentliche Problem, die Unberechenbarkeit der russischen Machthaber, schon beinahe wieder aus dem Blick. Das ist das Problem.
Was Sie konkret stört, sei "die grund- und schuldlos Angegriffenen, also die Ukraine, quasi zur Kapitulation" aufzufordern. Können Sie das erläutern?
Lange-Müller: Vor allem stört mich der Ton, der immer wieder die Musik macht. Dass man quasi den Ball der Ukraine zuspielt. Man kann schlussfolgern - obwohl das da nicht drinsteht -, dass sich die Ukraine doch lieber von einigen ihrer Ansprüche trennen soll. Es ist ja klar, dass diesen Krieg niemand gewinnen kann. Der Tonfall: "Denkt jetzt auch mal an uns, wir sind schließlich auch gefährdet" - das steht uns so nicht zu.
Aber ist es in so einer Debatte nicht auch wichtig, trotzdem einen Blick von außen zu haben und nicht nur auf die Position der unmittelbar Betroffenen zu schauen?
Lange-Müller: Das ist der Punkt. Vielleicht hätte der Brief noch zwei Tage liegen müssen, vielleicht hätte man anders formulieren müssen, vielleicht hätte man eindeutiger sein müssen. Denn die Lesart, dass die Ukraine aufgefordert wird, sich ein bisschen zurückzunehmen im Interesse von ganz Europa und weil wir alle eine reale Angst vor dem Atomkrieg haben - man hätte vielleicht noch klarer formulieren müssen, dass die Verantwortung für die Situation nicht auf die Ukraine zurückgespielt wird. Es reicht nicht, auszudrücken, dass man natürlich weiß, dass nicht die Ukraine der Aggressor ist, sondern Russland. Das genügt in dem Fall nicht.
Also würden Sie sagen, dass die Intention des Briefes gut und richtig war, aber dass er irgendwie ein bisschen schräg formuliert war?
Lange-Müller: Nicht nur ein bisschen schräg, sondern ein bisschen von oben herab: Da sind irgendwelche Intellektuellen in Deutschland, die besser als die Ukrainer wissen, was für uns alle gut ist.
Aber Sie waren ja Erstunterzeichnerin - ist Ihnen das jetzt erst klar geworden?
Lange-Müller: Nein, natürlich ist mir das erst klar geworden, als ich den Brief noch mal ganz genau gelesen habe. Ich war in Estland und habe gedacht: Alice Schwarzer schätze ich, ich habe mit ihr schon manche Sache gemacht, sie ist Autorin im selben Verlag wie ich - jetzt unterschreibst du erst mal. Und als ich von der Lesung wiederkam, habe ich den Brief richtig gelesen und dachte: Nee, so ganz dahinter stehe ich einfach nicht.
Wie stehen Sie zu dem jüngsten Brief der Gruppe um Ralf Fücks, Deutschland solle noch mehr Waffen liefern?
Lange-Müller: Das regt mich ein bisschen auf: Die eine Fraktion von Intellektuellen widerspricht der anderen, und dabei gerät das eigentliche Problem, die Unberechenbarkeit der russischen Machthaber fast schon wieder aus dem Blick. So geht es nicht nur den Intellektuellen: Alle streiten darüber, ob schwere Waffen aus dem Westen die Gefahr des Einsatzes russischer Atomwaffen eher verringern oder eher vergrößern. Was wissen wir denn? Jeder von uns will, machtlos, wie wir alle gerade sind, irgendetwas tun. Also schreiben wir Briefe, Artikel, Kommentare.
Aber hat das nicht auch etwas Positives, dass so eine Debatte nicht nur klassisch im Bundestag stattfindet, sondern dass wir alle diskutieren?
Lange-Müller: Natürlich hat das auch etwas Positives. Der Nachteil ist, dass wir uns wieder vorwiegend mit uns beschäftigen. Das zieht das ganze Problem wieder auf Deutschland zurück. Auffällig ist ja der Unterschied zwischen jenen, denen die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg noch in den Knochen stecken, und den Nachkriegskindern, zu denen ich mich zähle, und jenen, die bislang nur Friedenszeiten kannten. Das hat was mit empirischen Erfahrungen zu tun. Wer weiß denn schon, ob schwere Waffen, die den Sieg Russlands, wenn sie denn in der Ukraine angekommen sind, den irrational handelnden Putin veranlassen, zum Äußersten zu gehen, oder ob sogar er selbst bald mal Angst vor sich und seiner zügellosen Vernichtungsenergie bekommt? Das wissen wir doch nicht. Wir können bloß hoffen, dass es in Russland noch ein paar einflussreiche Kräfte gibt, die ihn abschaffen auf die eine oder andere Art.
Es ist alles sehr unbefriedigend - das bringt es aber nun mal irgendwie mit sich. Was lernen wir denn daraus? Auf welchen Ebenen sollten wir denn am besten jetzt Debatten führen?
Lange-Müller: Wir führen die Debatten so, wie wir es schon lange machen, egal, um welches Thema es geht: Die einen prügeln auf die anderen. "Sogenannte Intellektuelle", heißt es dann. Was nützt es denn in der Sache, wenn wir einander beschimpfen? Das verbraucht nur Energie. Mal ist man mehr der einen Seite zugeneigt, mal mehr der anderen. Aber im Grunde genommen ist es so, als stünden nicht nur die Ukrainer, sondern alle Europäer auf so einer Art Tretmine: Die einen halten es für besser, sich nicht zu bewegen - und die anderen glauben, das Ding sei womöglich nur eine Attrappe.
Das Interview führte Jan Wiedemann.