Zwei junge Geschaeftsleute zeigen laechelnd auf einen steil nach oben verlaufenden Flow-Chart © blickwinkel/McPHOTO/ADR

Grenzen des Wachstums - und doch immer weiter?

Stand: 26.02.2022 12:09 Uhr

So wie jetzt wird es mit dem wachstumsorientierten Leben und Wirtschaften nicht unbegrenzt weitergehen. Warum ändern wir unser Verhalten dann nicht? Ein Essay von Annette Kehnel.

von Annette Kehnel

"Die Grenzen des Wachstums": Unter diesem Titel erschien vor 50 Jahren der berühmt gewordene Bericht des Club of Rome. Die Ausgangsüberlegung: Unser individuelles Handeln fügt sich in ein Gewebe weltweiter Wirkungen, die unsere Lebenszeit, den Raum, in dem wir agieren, weit übersteigen. Über 30 Millionen Exemplare des Buches wurden bis heute verkauft. Und doch ist die Problematik drängender denn je. Können wir etwa nicht anders? Wir könnten sehr wohl, so die Mittelalterhistorikerin Annette Kehnel in ihrem Werk "Wir konnten auch anders", für das sie 2021 den NDR Sachbuchpreis erhielt.

Man muss doch nicht gleich Panik schieben

Es war im Geographieunterricht, erste Stunde, um 7.50 Uhr morgens: "Stellt Euch vor", begann unsere Lehrerin mit ungewohnt sanfter, fast träumerischer Erzählstimme, "stellt Euch vor, ihr wohnt in einem Haus am See, mit Garten, Hund, Freunden, Geschwistern, und allem was ihr braucht. Ein Paradies. Eines Tages entdeckt ihr beim Schwimmen eine Seerose am anderen Ufer. Ihr rennt aufgeregt ins Haus und erzählt eurer Mutter davon. Als am nächsten Tag schon eine weitere blüht, ist die ganze Familie aus dem Häuschen. Am dritten Tag sind es vier, am vierten Tag acht, am fünften schon 16 Seerosen. Und es werden immer mehr: nach zehn Tagen 512, nach elf Tagen 1024. Ihr habt längst aufgehört zu zählen. Nach 14 Tagen ist der See zur Hälfte mit Seerosen bedeckt." Mitten im Erzählen hielt Frau Wolfensperger - so hieß unsere Geographielehrerin - inne, zögerte ein Weilchen und fragte dann mit ihrer altvertrauten Oberlehrerinnenstimme: "Wo werdet ihr morgen schwimmen?"

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Annette Kehnel mit dem NDR Sachbuchpreis. © NDR Foto: Axel Herzig

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Das war wohl die eindrücklichste Lektion, die ich zum Thema exponentielles Wachstum je erhalten habe. Man spricht auch von unbegrenztem oder freiem Wachstum - nüchtern betrachtet ein mathematisches Modell für einen Wachstumsprozess, bei dem sich die Bestandsgröße in jeweils gleichen Zeitschritten immer um denselben Faktor vervielfacht. Eine Entwicklung, die wir Menschen uns nicht vorstellen können. Nur weil der See zur Hälfte mit Seerosen bewachsen ist, nur weil es ein bisschen heißer wird auf dem Planeten, muss man doch nicht gleich Panik schieben, ich bitte Sie!

Das war im Jahr 1972, als der erste Bericht des Club of Rome erschien. Die Prognose lautete: "Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht." Ich war damals acht Jahre alt.

Warum ist so wenig passiert?

Gestern telefonierte ich mit meiner Tante Rose. Sie war 1972 Ende 30 und hatte vier kleine Kinder. Wie erging es ihr damit? "Ich fand das damals beunruhigend. Sehr bedenkenswert. Sehr ernst. Wobei man den tieferen Ernst erst im Rückblick erkennt. Die Ernsthaftigkeit verbunden mit Erfolglosigkeit, die erkennt man ja erst heute. Wir haben das zur Kenntnis genommen - zu den Akten gelegt - und sind dann zum Alltagsgeschäft übergegangen. Es ging ja immer nur aufwärts. Und wir waren Teil des Booms. Die Grenzen des Wachstums? Die gab es offenbar doch nicht. War alles halb so wild. Ist ja auch nichts passiert. Erst mal. Erst heute wird uns der Ernst der Lage klar. 50 Jahre später hat uns der Klimawandel eingeholt. Der Planet schickt uns die Rechnung", sagt meine Tante Rose. Sie hat neun Enkelkinder, alle erwachsen und voller Lust auf Zukunft. Ich habe vier Kinder und ein Enkelkind. Ein halbes Jahrhundert ist vergangen. Und ich muss an die Frage unserer Geographielehrerin denken: "Wo werdet ihr morgen schwimmen?" Ja, wo? Und wo erst unsere Enkel?

Warum, so frage ich mich, warum ist so wenig passiert im letzten halben Jahrhundert? Mehr als 30 Millionen Exemplare des Berichts sind doch verkauft worden, in 30 Sprachen. Das Bewusstsein für die Begrenztheit der Ressourcen war da. Noch dazu haben die Hauptautoren, Donella und Denis Meadow nicht nur Weltuntergangsstimmung, sondern auch Hoffnung verbreitet:

"Es erscheint möglich, die Wachstumstendenzen zu ändern und einen ökologischen und wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand herbeizuführen, der auch in weiterer Zukunft aufrechterhalten werden kann. Er könnte sogar so erreicht werden, dass die materiellen Lebensgrundlagen für jeden Menschen auf der Erde sichergestellt sind und noch immer Spielraum bleibt, individuelle menschliche Fähigkeiten zu nutzen und persönliche Ziele zu erreichen." Veränderung ist möglich - das war die Botschaft.

Man hat den technologischen Fortschritt unterschätzt

Und warum haben wir dann diese "Wachstumstendenzen" trotzdem nicht verändert? Sie stattdessen nur beschleunigt? Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten.

Die erste argumentiert mit handwerklichen Fehlern des Berichts. Man habe damals den technologischen Fortschritt und die tatsächlichen Rohstoffvorkommen völlig unterschätzt. Will heißen: Der Club of Rome hat die Innovationskraft der Menschen nicht einkalkuliert, hat nicht bedacht, wie clever wir sind, wie fix in der Erfindung neuer Technologien, die eine viel bessere Ausbeutung der Ressourcen ermöglichen.

Politische Rückschläge

Hinzu kamen, zweitens, politische Rückschläge: Ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten Berichts kam 1973 die erste Ölpreiskrise: Der Yom-Kippur-Krieg im Nahen Osten, das Öl wurde teuer. Die Welt war aufgerüttelt, die wachstumspolitische Umkehr schien so nah. Doch das Gegenteil trat ein. Der SPD-Politiker Erhard Eppler erinnerte sich: "Als der Saft plötzlich etwas kostete, von dem die Industrieländer lebten, ging es nur noch um Ökonomie, um das trotzige 'Weiter so!'. Was in 30 Jahren sein möge, war eine Sorge von Traumtänzern."

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 26.02.2022 | 13:00 Uhr

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