Eine Frau arbeitet zu Hause bei ihrem Kind an einem Laptop. © panthermedia Foto: doble dphoto

Gleichstellung in der Pandemie: Rückfall in alte Zeiten?

Stand: 04.03.2022 16:11 Uhr

Zu Beginn der Corona-Pandemie prognostizierte die Soziologin Jutta Allmendinger, dass unser Umgang mit dieser Krise viele Gleichberechtigungsfortschritte zunichtemachen werde. Zwei Jahre später liegen viele Daten und Studien vor.

von Jutta Allmendinger

Die Pandemie lässt uns in überholt geglaubte Zeiten zurückfallen, sie wird einen Rückschritt in der Gleichberechtigung auslösen - das war es, was ich vor zwei Jahren befürchtete. Meine Prognose war kein Abrakadabra. Ich war mit dem Thema vertraut, hatte genau beobachtet, wie die Politik die Bekämpfung der Pandemie steuerte, und konnte meine Einschätzung auf erste Umfragedaten stützen. Und so dramatisch dieser Befund für manche klang, so wenig überraschend musste er bei genauer Betrachtung sein. Zu unvollendet und fragil war die Gleichstellung von Männern und Frauen, zu gering das Engagement von Vätern bei Haus- und Sorgearbeit, zu leicht konnte sich die Schere in der Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Frauen und Männern weiter spreizen. Wer sonst als die meist Teilzeit arbeitenden jungen Mütter würde sich um die Kinder kümmern? Kitas, Schulen, Großeltern und Freunde ersetzen? Der Gegenentwurf - die Pandemie als Chance für ein neues Aushandeln innerfamiliärer Arbeitsverteilung, die Krise als Treiber der Gleichstellung - erschien mir illusionär. Schon allein die politischen Signale dafür fehlten ganz und gar. Meine These der Retraditionalisierung ging schnell viral, unter meist kritischer Kommentierung.

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Nach zwei Jahren Pandemie ist es an der Zeit, Zwischenbilanz zu ziehen. Und dank vieler und sehr guter Daten ist das nicht schwer. Zu dieser umfassenden Datengrundlage gehören große, seit Jahrzehnten laufende Erhebungen wie das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), das Panel zur Analyse intimer Beziehungen und Familiendynamiken (PAIRFAM) oder die Allgemeine Bevölkerungsumfrage (ALLBUS). Neu aufgesetzte Analysen wie die Berliner oder Mannheimer Corona-Studien, die Erhebungen der Hans-Böckler-Stiftung und eine Reihe qualitativer Analysen ergänzen das Bild. Hinzu kommen administrative Daten von Krankenkassen, der Bundesagentur für Arbeit, Gewerkschaften und Unternehmen. Vor mir liegen rund 100 Studien, allein für den deutschen Raum. Sie schärfen unser Wissen.

Bei allen Unterschieden in Erkenntnisinteresse, Erhebungsmethode und zugrunde liegender Stichprobe sehen wir ein in sich stimmiges Bild: Die Pandemie trifft Familien mit Kindern härter als Haushalte, in denen keine Kinder leben. Sie trifft Mütter deutlich stärker als Väter. Abzulesen ist dies an der Entwicklung von mindestens vier unser Leben bestimmenden Faktoren: Erwerbstätigkeit, Gesamtarbeitszeit, Gesundheit und Lebenszufriedenheit. 

Erwerbstätigkeit: Nachhaltigere Einbußen bei Frauen

Aufgrund vieler sichernder Maßnahmen ist die Arbeitslosigkeit während der Pandemie kaum gestiegen. Doch die Erwerbsarbeitszeit von Müttern - wesentliches Element der Sicherung von Einkommen, Karrierechancen und Altersrente - sinkt. Und das deutlicher als bei Vätern. Ausgehend von einem allemal niedrigeren Niveau reduzierte jede vierte Frau zwischen Januar und April 2020 ihre Erwerbstätigkeit, bei den Männern waren es 15 Prozent. Im Januar 2022 ist es noch jede fünfte Frau, während nur noch fünf Prozent der Männer weniger arbeiteten als vor der Pandemie. Die Einbußen von Frauen sind also nachhaltiger als jene von Männern. In Stunden bemessen verringerten Väter mit Kindern unter zwölf Jahren ihre Arbeitszeit von durchschnittlich 41 Wochenstunden vor der Krise auf 38 Wochenstunden im Juni 2020. Auch während der Pandemie arbeiteten sie damit sogar länger als Männer ohne junge Kinder. Mütter mit jungen Kindern reduzierten ihre Arbeit im Durchschnitt von 31 auf 26 Wochenstunden - weit mehr als Frauen ohne kleine Kinder. Im Ergebnis haben sich die Arbeitszeitdifferenzen zwischen Männern und Frauen erstmals seit 2013 wieder erhöht. Das wird sich erheblich auf die Altersrente auswirken.

Auch Aufstockungen des Kurzarbeitergeldes von Frauen fehlen. Laut Daten der Hans-Böckler-Stiftung wurden im November 2020 für 46 Prozent der Kurzarbeiter das Entgelt aufgestockt, während dies nur bei 36 Prozent der Kurzarbeiterinnen zutraf. Außerdem blieben Mütter länger als vereinbart in Elternzeit und gaben häufiger als Männer geplante Weiterqualifikationen auf. Die Bertelsmann-Stiftung spricht von einer "strukturell bedingten Depriorisierung der Erwerbstätigkeit von Frauen". Besonders dramatisch entwickelt sich die Lage von geringfügig Beschäftigten und Selbstständigen. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse schwinden, insbesondere Frauen sind davon betroffen. Viele Selbstständige verlieren ihre Geschäftsgrundlage, Frauen werden dabei überproportional aus der Selbstständigkeit gedrängt. Zudem müssen Selbstständige häufiger finanzielle Einbußen hinnehmen als abhängig Beschäftigte, die meist über das Kurzarbeitergeld abgesichert sind. Knapp 65 Prozent der weiblichen Selbstständigen verzeichnen Einkommensrückgänge, bei Männern sind es rund 47 Prozent.

Gesamtarbeitszeit bei Frauen gestiegen

Die Gesamtarbeitszeit ist die Summe von bezahlter Arbeitszeit, Kinderbetreuung, Haushalt und Pendeln, die eine sozialversicherungspflichtige Person leistet. Und während die Erwerbsarbeit von Müttern mit Kindern bis zwölf Jahren im Frühjahr 2020 sank, stieg ihre Gesamtarbeitszeit um acht Stunden pro Woche, bei Vätern nur um drei Stunden. Im September 2020 lagen Mütter noch 1,5 Stunden über dem Ausgangsniveau, während Väter wieder frühere Arbeitszeiten angenommen hatten. Diese Entwicklung lässt sich auch am Beispiel der Kinderbetreuung zeigen. Zu Beginn der Pandemie verringerte sich der Anteil der Frauen, die den größeren Anteil an der Kinderbetreuung erbrachten, von 62 Prozent vor der Pandemie auf 53 Prozent im April 2020. Bei Männern sieht man einen Anstieg von fünf Prozent auf 13 Prozent. Bis Juni 2021 stieg dann der Anteil der Frauen, die überwiegend die Kinderbetreuung übernahmen, auf ein höheres Niveau als vor der Krise (71 Prozent gegenüber 62 Prozent), der Anteil der Männer sank auf sieben Prozent und damit fast wieder auf das Ausgangsniveau von vor der Krise.

Gesundheit: Mehr psychische Belastungen bei Frauen

Neue Ergebnisse der repräsentativen Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung belegen, dass sich erwerbstätige Mütter in den Bereichen Familie, Arbeit und Finanzen stärker als Väter belastet fühlen. Insbesondere die Unterschiede in der Gesamtbelastung sind sehr deutlich. Zu diesem Ergebnis kommt auch die psychologische und medizinische Forschung. Sehr früh wies etwa das Team um Bertolt Meyer darauf hin, dass erwerbstätige Frauen in der Pandemie starke Erschöpfungs-, Stress- und Burnout-Symptome zeigen. Sie gab es besonders bei Müttern von Kindern im Kindergartenalter, Müttern, die über wenig Autonomie am Arbeitsplatz verfügen, im Home-Office arbeiten und/oder im geringen Umfang durch ihren Partner unterstützt wurden. Für Männer zeigt die Pandemie keine höheren psychischen Belastungen.

Mütter deutlich unzufriedener als Väter

Alle vorliegenden Studien belegen übereinstimmend, dass die Zufriedenheit der Mütter während der Pandemie deutlich stärker als bei Vätern eingebrochen ist. Mütter machen sich mehr Sorgen um die Bildung, die wirtschaftliche Zukunft und die Gesundheit ihrer Kinder und sind zudem deutlich unzufriedener als Väter mit Kinderbetreuung, Familienleben, Wohnsituation und Lebenszufriedenheit.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 05.03.2022 | 13:00 Uhr

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