Philosophin Rebekka Reinhard © Screenshot

Der Ukraine-Krieg beseitigt Gewissheiten: Ein Lob des Zweifels

Stand: 09.05.2022 17:44 Uhr

"Die westliche Philosophie hat ich schon immer schwer getan mit Paradoxien", sagt die Philosophin Rebekka Reinhard. Sie bricht eine Lanze für den Zweifel - und bezeichnet unumstößliche Überzeugungen als "Gefahr für die Demokratie".  

von Angelika Kellhammer

Einst überzeugte Pazifisten sprechen sich plötzlich für Waffenlieferungen aus - sinnvoll oder falsch? Sicherheit ist Illusion, Paradoxes und Ungewisses gehören zu unserem Leben.

Alles verändert sich unaufhaltsam, und wir werden fortgerissen. Die Welt von gestern ist weg. Und die Welt von heute wird nicht die von morgen sein. Willkommen im Unbehausten, im Widerspruch, im Zweifel. "Die westliche Philosophie hat sich schon immer schwer getan mit Paradoxien", sagt die Philosophin Rebekka Reinhard. "Eine Ausnahme ist Heraklit, der allererste bekannte Philosoph, der ja gesagt hat: Alles fließt - aus hell wird dunkel, aus dunkel hell. Gerade in der heutigen Zeit, wo wir schnell mit Null oder Eins, Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß antworten müssen, haben Uneindeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien einen schweren Stand."

Eine unumstößliche Meinung haben ist das neue Schlau. Man könnte eine solche Haltung aber auch unbelehrbar nennen. Wer innehält und zweifelt, weiß, dass er sich der Besten aller Welten nur annähern kann. Zweifel kommt vom althochdeutschen "zwifal": Zweifalt ist das Gegenteil von Einfalt. 

Robert Habeck: Abschied von falschen Gewissheiten

Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte Ende März bei Markus Lanz: "Wir können uns nur einreden, dass wir alles richtig machen, wenn wir von einem politischen Gedankenbild ausgehen, wo jemand immer auf der moralisch richtigen Seite steht. So ist es aber nicht. Wir sollten aufhören, uns das einzureden. Und nur aus dieser Position heraus - es gab eine heile Welt, in der wir immer alles richtig gemacht haben - wäre das heute ein Dilemma. So war es aber vorher nicht und so ist es jetzt auch nicht."

Im Gedicht "Lob des Zweifels" von Bertolt Brecht heißt es: 

Da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln.
Ihre Verdauung ist glänzend, ihr Urteil ist unfehlbar.
Sie glauben nicht den Fakten, sie glauben nur sich. Im Notfall
Müssen die Fakten dran glauben. Ihre Geduld mit sich selber
Ist unbegrenzt. Auf Argumente
Hören sie mit dem Ohr des Spitzels. aus "Lob des Zweifels"

Philosophin Reinhard: Schwarz-weiß-Denken ist "falsches Dilemma"

"Null oder eins, entweder oder, schwarz oder weiß ist in den meisten Fällen tatsächlich nichts anderes als ein falsches Dilemma", meint Philosophin Reinhard. "Denn ich schließe ja alle anderen Alternativen, die hinausgehen über diese Zweiwertigkeit - wir oder sie, ich oder die anderen - damit aus. Das ist natürlich eine Gefahr für die Demokratie."

Zweifel fühlt sich nicht gut an. Wo alle sofort eindeutig Position beziehen, findet man selbst keinen Platz, man ist der Sand im Getriebe. Doch Zweifeln bedeutet eben nicht Verzweifeln, nicht untätig bleiben. Skepsis heißt wörtlich "Betrachtung". Zurücktreten, neu hinsehen, Möglichkeiten durchspielen. Diese Fähigkeit  verbindet die Kunst und die Wissenschaft. 

Mediziner Ignaz Semmelweis: Sein Zweifel rettete Leben

Ignaz Semmelweis, österreichisch-ungarischer Arzt zweifelte: Das schicksalsgegebene Kindbettfieber im Jahr 1846 im Wiener Krankenhaus musste eine bestimmte Ursache haben, denn nirgends starben mehr Frauen als ausgerechnet unter den Händen von Ärzten. Semmelweis hat die Elite bedroht mit seinem Zweifel - und dabei Leben gerettet. Er fand heraus: Die Ärzte kamen oft direkt vom Leichensezieren und das Fieber der Frauen war nichts anderes als eine Blutvergiftung, vermeidbar durch Hygiene. 

"Überzeugungen sind Gefängnisse" sagt Friedrich Nietzsche. Sie halten uns gefangen in einer Welt, die wir gerne hätten. Im Wunschdenken. Wer total überzeugt ist, ist bereit, sehr weit zu gehen, um sich durchzusetzen. Wer total überzeugt ist, ist oft bereit, zu töten. 

Voltaire: Gewissheit ist ein "lächerlicher Zustand"

"Gefährlich daran, wenn ich meine Überzeugungen nie in Zweifel ziehe, ist der damit einhergehende Dogmatismus", so Reinhard. "Jegliche Art von Ideologie basiert auf Dogmen, unerschütterlichen Glaubenssätzen, die auf keinen Fall in Frage gestellt werden dürfen. Im 20. Jahrhundert haben wir gesehen, und sehen es heute wieder, was geschieht, wenn die Hybris, das Festhalten an den eigenen Dogmen, überhand nimmt."

"Zweifel ist kein angenehmer Zustand, aber Gewissheit ist ein lächerlicher", hat Voltaire einmal gesagt. Willkommen im Offenen. Wir sind dafür gemacht.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur - Das Journal | 09.05.2022 | 22:45 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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