Stand: 16.06.2020 17:43 Uhr

Corona-Folgen: "Essen hat einen neuen Stellenwert"

In der Krise hätten viele Leute mehr gekocht, mehr Rezepte gegoogelt und mehr frische und regionale Produkte eingekauft, sagt Hanni Rützler, Ernährungswissenschaftlerin und Autorin des jährlichen "Food-Reports". Beeinflusst die Corona-Krise auch unsere Esskultur und unsere Ernährung in der Zukunft? Hanni Rützler spricht über diese und weitere Fragen mit Anja Reschke im After Corona Club.

Hanni Rützler © picture-alliance/Juerg Christandl Foto: Juerg Christandl
Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler sieht einen Trend zu geliefertem Essen, der anhalten könnte.

Noch nie waren gleichzeitig so viele Menschen zu Hause, haben regelmäßige Mahlzeiten gekocht und so viel Zeit am Esstisch verbracht wie in der Corona-Krise. "Essen hat einen neuen Stellenwert bekommen", sagt Hanni Rützler, Ernährungswissenschaftlerin und Zukunftsforscherin aus Wien, die jedes Jahr den "Food-Report" herausgibt. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit Ernährungs-Trends. In der Corona-Krise hätten die Menschen nicht nur mehr Zeit in der Küche verbracht, sie hätten auch wieder bewusster eingekauft. "Die Sehnsucht nach frischen, regionalen Produkten war enorm spürbar."

In der Corona-Krise habe auch die Mobilität des Essens zugenommen. Die Lieferservice-Branche boomt. Dabei werden nicht nur Pizza und Fastfood bestellt. Viele Gastronomen hätten sich bemüht, auch hochwertigere Gerichte außer Haus zu verkaufen. In den USA und Großbritannien gibt es den Trend zum Lieferservice schon länger - mehr als 50 Prozent des Essens werden dort geliefert. Die Corona-Erfahrung könnte auch bei uns diese Entwicklung beschleunigen.

Weniger Fleischkonsum vor der Corona-Krise

In der vergangenen Jahren verzeichneten Trendforscher bereits einen beginnenden Wandel bei der Ernährung. Das Gesundheitsbewusstsein sei gestiegen, so werde zum Beispiel weniger Fleisch gegessen. "Es ist natürlich eine Minderheit, die vegan isst", sagt Hanni Rützler, aber Veganer hätten den Finger in die Wunde gelegt. Die Debatte über "die Art, wie wir Tiere halten, wie wir sie füttern, wie man sie tötet" hätten sie mitangestoßen. Inzwischen gebe es eine neue Wertschätzung für hochwertiges Fleisch von artgerecht gehaltenen Tieren und von speziellen Rassen. Das hat allerdings seinen Preis. Mittlerweile gebe es viele "Flexitarier". Das sind Verbraucher, die sich nur selten Fleisch gönnen, dann aber oft Biofleisch, und für die Themen wie Klimawandel und Nachhaltigkeit auch wichtig seien.

Auch der Bundesernährungsreport 2020 aus Julia Klöckners Ministerium verzeichnet eine Entwicklung zu weniger Fleischkonsum und dem Wunsch der Verbraucher nach mehr Tierwohl. Doch wenn im Supermarkt billiges Fleisch angeboten wird, greifen immer noch viele zu. "Das sind vor allem jene, die versuchen, ihre Familie zu verwöhnen mit Fleisch, für die hat das Fleisch noch einen ganz anderen Stellenwert", sagt Hanni Rützler. Aber in der Trendforschung werde auf längerfristige Entwicklungen geschaut. "Ich glaube, mit dem Klimawandel und der Nachhaltigkeitsdebatte steht das Fleisch unter Beschuss".

Fleisch-Alternativen

2013 wurde der erste im Labor gezüchtete "In-vitro-Burger" vorgestellt, produziert von der Universität Maastricht. Die Kosten der Entwicklung wurden auf 250.000 Euro geschätzt. Hanni Rützler gehörte damals zu den drei ausgewählten Erstverkostern des neuartigen Laborfleisches: "Es war überraschend besser als erwartet", erinnert sie sich. "Ich persönlich sehe darin durchaus eine Zukunftschance." In den USA und auch China gebe es seitdem viel Forschung dazu. Dort werde mit künstlichem Rindfleisch, Schweinefleisch und auch Fisch aus dem Labor experimentiert.

Schon länger gelten Insekten als Nahrungsquelle der Zukunft - dank ihres hohen Proteingehalts und einem großen Anteil an Vitaminen und Mineralstoffen. Auch darin sieht Hanni Rützler eine Chance. "Es gab bei der Zulassung riesige Hürden", so Rützler. Vier Insektenarten sind bei uns inzwischen zugelassen. Rützler glaubt aber nicht, dass wir künftig direkt in die Krabbeltiere beißen werden. Man könne sie aber als Teil der großen Nahrungskette denken: "Warum nicht Insekten an Hühner verfüttern? Warum nicht die bei der Insekten-Produktion anfallenden Flügel und Reste der Heuschrecken einsetzen als Dünger? Mehlwurm-Mehl in Brot verwenden?" Wenn auch die Abfälle verwertet würden, ginge das in Richtung Kreislaufwirtschaft, sagt Hanni Rützler. Die jüngere Generation habe vielleicht weniger Vorbehalte, denn die "sei deutlich häufiger nach Asien gereist und habe dort gemerkt, dass es gut schmecken kann".

In Zukunft muss sich unsere Ernährung verändern, mangels Ressourcen, es braucht eine Entwicklung hin zu nachhaltigeren Konzepten. Die Corona-Zeit könnte die sich schon länger abzeichnenden Trends beschleunigen.

After Corona Club: Gesprächsformat mit Anja Reschke

Im After Corona Club spricht Anja Reschke mit Fachleuten aus Psychologie, Wirtschaft, Soziologie, Politik, Medizin und weiteren Wissenschaften. Der Debattierclub über unsere Zukunft. Diskutieren Sie mit! Übrigens: Den After Corona Club gibt es auch als Audio-Podcast.

Weitere Informationen
After Corona Club mit Anja Reschke © NDR Foto: Berthold Fabricius

After Corona Club: Zu Gast bei Anja Reschke

Wie sieht unsere Gesellschaft nach Corona aus? Was gibt es für Prognosen, Visionen, aber auch Forderungen? Anja Reschke spricht mit Fachleuten aus den Wissenschaften. mehr

Dieses Thema im Programm:

After Corona Club | 17.06.2020 | 19:30 Uhr

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