Ein venezianischer Gondoliere fährt seine Gondel durch die engen Kanäle von Venedig. © picture alliance / CHROMORANGE Foto: Michael Bihlmayer

Tendenz fallend - Wie ist Venedig noch zu retten?

Stand: 08.10.2022 06:00 Uhr

Venedig steht mal wieder vor dem Untergang. Inzwischen bedrohen aber längst nicht mehr nur Kreuzfahrtschiffe oder Hochwasser die Substanz - das Geld der Investoren treibt der Stadt den Geist aus und die Bewohner gleich mit.

von Martin Tschechne

Eine Ankunft in Venedig ist jedes Mal wieder ein sanfter Schock. Nicht unangenehm. Man tritt aus der Bahnhofshalle, überquert halblinks eine eigentümlich gebuckelte Brücke - und verliert sich in einer anderen Zeitrechnung. Das klingt ein bisschen pompös, aber tatsächlich versetzen das türkisblaue Wasser der Kanäle, das milchig gleißende Licht, das Halbdunkel der oft gerade schulterbreiten Gassen und die byzantinische Pracht der Palazzi den Besucher in einen Zustand, als beträte er oder sie eine schwebende, von der vertrauten Welt abgesetzte Wirklichkeit.

Es ist eine Wirklichkeit, in der Verschwendung, voll erblühte Schönheit und kriechender Verfall ineinander fließen wie in einem lebendig gewordenen Stillleben des Barock. Natürlich ist die Stadt in ihrem Wesen viel früher entstanden, in der Zeit der Gotik und der Renaissance - aber solche Verschiebungen fallen hier nicht weiter ins Gewicht. Das Besondere an Venedig liegt in der fortdauernden Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Geschichte. Außerdem ist es viel relevanter für diese Gegenwart, dass Tagesbesucher für das anrührende Erlebnis dieser Stadt von Mitte Januar an Eintritt zu zahlen haben.

Es sei ein Akt von Notwehr, sagen die Verantwortlichen in der Verwaltung, obwohl Skeptiker eher an eine neuerliche Geschäftsidee glauben. Die Rede ist von sechs Euro pro Person und Tag, mit Möglichkeiten der Anpassung, wenn die Flut der Tagesgäste mal gar zu stark anschwillt oder, was keiner sich ernsthaft vorstellen kann, wenn ein Rabatt noch zögernde Reisende dazu locken müsste, sich in die Fußgängerkanäle mit ihren Souvenirhändlern zu ergießen, in eines der schicken Privatmuseen, die luxuriös ausgestatteten Hotels mit Blick aufs Wasser oder die Cafés an der Piazza San Marco, in denen ein Cappuccino leicht mal zehn Euro und mehr kostet.

So kann es nicht weitergehen

Über 30 Millionen Besucher pro Jahr zählt die Stadt, 100.000 jeden Tag, oft auch mehr. Für die Bewohner sind die Zustände kaum noch erträglich. 200.000 Menschen lebten mal auf den Inseln der Lagune, Einzelhändler, Handwerker, sogar Fischer. Heute sind es 50.000, Tendenz fallend. Wer wegzieht, hinterlässt eine Ferienwohnung zum Tagessatz, unbezahlbar für normale Dauermieter. Die verbliebenen Bürger begehren auf; die Zahl 49.999, an Hauswände geklebt und auf Pamphleten verbreitet, ist ihr Signal, dass es so nicht weitergehen kann.

Und sie haben sogar Erfolg: Die riesigen Kreuzfahrtschiffe etwa, die viel zu lange das Wasser vor dem Dogenpalast aufgewühlt, die Grundmauern der historischen Kirchen und Paläste unterspült und die Fassaden mit einem klebrigen Ölfilm zersetzt haben - seit dem vergangenen Sommer müssen sie draußen in Marghera anlegen, in der Lagune. Aber der Schaden ist angerichtet, die Fundamente sacken weiter ab, der Meeresspiegel steigt, und an der Haltung hat sich nicht viel geändert. Nicht genug jedenfalls.

Perspektivwechsel auf der Architekturbiennale

Das System braucht ein Zukunftslabor, und vielleicht kann die Architekturbiennale im kommenden Sommer zu einem Perspektivwechsel beitragen. Für die Programmchefin Lesley Lokko, Architektin und Autorin von mittlerweile zwölf Romanen, ist es höchste Zeit, neue Blickwinkel zu öffnen und weite Brücken zu schlagen. Eine Richtung deutet sie schon mal an: Wir in Europa sprechen von Minderheiten und von Diversität, sagt sie. Tatsächlich aber sind die Minderheiten der westlichen Welt die globale Mehrheit. Und Anderssein ist der Normalfall. Die Biennale, nebenbei, trägt die laufende Nummer 18. Es ist die dritte unter weiblicher Leitung.

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Und wieder werden Länder eingeladen, auf dem ehrwürdigen Gelände der Giardini ihre Konzepte für die Zukunft zu präsentieren. Das kanadische Projekt trägt den Titel "Not for Sale". Die Schweiz macht sich öffentlich Gedanken über "Neighborhood", also Nachbarschaft, und Deutschland bleibt, so der Titel des Beitrags, "Wegen Umbau geöffnet". Dabei ist Lokko sicher, dass ihr Zukunftslabor längst real existiert. Sein Name ist Afrika, und wenn in Venedig von Mai an die Architekten aus England, Frankreich oder Dänemark ihre Konzepte diskutieren, dann hat Afrika schon so ziemlich alle Prozesse durchlaufen, die so ein Konvent von Experten sich ausdenken kann.

Oder steckt mittendrin. Von wucherndem Wachstum spricht die Kuratorin, von schreienden Umweltproblemen, von erzwungener Migration, einem sozialen Gefälle mit gefährlich scharfen Abbruchkanten, aber auch von immer wieder erstaunlichen Kräften des Widerstands und der Heilung. Lokko ist in Schottland aufgewachsen, Tochter eines ghanaischen Vaters und einer schottischen Mutter. Sie spricht in zweierlei "wir": wir in Europa, und wir in Afrika. Wir sind, sagt sie also und bezieht sich nun auf Afrika, wir sind der jüngste Kontinent, im Schnitt halb so alt wie die Bevölkerung der alten, westlichen Welt. Und so oft wir auf der falschen Seite von Hoffnung und Geschichte gestanden haben, so oft haben wir Lösungen gefunden, nach denen viele andere heute suchen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 08.10.2022 | 13:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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