Navid Kermani: Die Welt zu entdecken ist wichtig
Alles Gute zum Geburtstag, Niedersachsen! 75 Jahre ist das Bundesland alt. Gefeiert wurde am Montag in Hannover mit prominenten Gästen. Die Festrede hielt der Schriftsteller Navid Kermani.
Herr Kermani, an einer Stelle in Ihrer Rede heißt es: "Wir feiern heute den phänomenalen Erfolg einer militärischen Intervention." Sie haben in Ihrer Festrede die Geschichte Niedersachsens ausgeleuchtet. Selbst waren Sie oft in Ihrem Leben im Ausland, in Kriegsgebieten. Wie haben Sie da diese Brücke zu Niedersachsen hergestellt?
Navid Kermani: Die Gründung des Landes Niedersachsen verdankt sich einer militärischen Intervention. Und gerade in den letzten Wochen haben wir das Ende einer gescheiterten militärischen Intervention erlebt: in Afghanistan, in Kabul. Die Soldaten, die zurückgekehrt sind, sind in Wunstorf gelandet, das ist gerade mal 20 Kilometer entfernt von dem Kongresszentrum, in dem wir uns gestern versammelt haben. Von daher gibt es da sofort eine Verbindung: Wie hängen diese beiden Ereignisse zusammen?
Eine Kernfrage für mich ist: Wenn eine militärische Intervention so spektakulär gelingt wie in Niedersachsen, in Deutschland und wenn eine andere spektakulär scheitert, wie in Afghanistan, dann scheinen militärische Interventionen nicht grundsätzlich immer nur schlecht zu sein und schon gar nicht immer nur gut, sondern dann muss man den Einzelfall betrachten. Und ich habe überlegt in dieser Rede, was das bedeutet.
Unter welchen Bedingungen man intervenieren müsste, wann aber auch nicht. Und was zwischen Nichtstun und Intervention eigentlich liegt und viel zu wenig beachtet wird - nämlich Politik.
Die Politiker waren ja auch vor Ort im Kuppelsaal. Sie haben an sie appelliert, und der eine oder andere, der sich jetzt vielleicht eine rauschende Festrede vorgestellt hat, wurde womöglich ein bisschen enttäuscht. Was ist denn Ihr Appell an die Politik? Was genau bewegt Sie?
Kermani: Ganz konkret bewegt mich natürlich, dass wir einen dramatischen Bedeutungsverlust der Außenpolitik erleben, obwohl gleichzeitig unser Leben immer stärker von äußeren Faktoren bestimmt wird. Da muss man ja gar nicht nur an die Pandemie denken oder an den Klimawandel. Das sind ja alles Dinge, da können wir uns auf den Kopf stellen und noch so mustergültig alles regeln. Das haben wir nicht selbst in der Hand, das werden wir hier nicht lösen. Und obwohl das so ist, wird unser Blick immer provinzieller.
Wir haben es im Wahlkampf erlebt, erleben es jetzt auch bei den Sondierungsgesprächen. Und ein Appell zum Beispiel ist natürlich, dass wir die Welt überhaupt erst wieder wahrnehmen und dass wir nach dem Scheitern in Afghanistan nicht etwa sagen: Man darf nirgends intervenieren, man darf sich nirgends engagieren, sondern überlegen: Wie kann man sich engagieren, wie kann man intervenieren? Sind das immer Bomben? Haben wir uns vielleicht nicht genug diplomatisch bemüht? Dass wir nicht meinen, wir könnten einfach nichts tun, oder dass die Alternative bestehe zwischen Nichtstun und Krieg. Nein, dazwischen gibt es unendlich viele Möglichkeiten, etwas zu tun. Und wir müssen etwas tun, und zwar aus einem ganz egoistischen Grund: Wenn wir unser Leben weiterführen wollen. Denn sonst werden andere mit uns etwas tun.
Was heißt das niedergebrochen jetzt auf Niedersachsen, wenn jeder bei sich in seiner Umgebung bleibt? Wie konkret können wir handeln?
Kermani: Ich bin ja kein Politiker, ich kann nicht den Leuten sagen, was sie konkret tun sollen. Die sind ja klug genug. Aber natürlich ist da das Ausmaß der Pandemie. Und das ist etwas, was ich auch jungen Leuten immer sage: Es gibt so viele Überlegungen, man solle nicht so viel reisen, und muss sich um das eigene kümmern. Diese ganze Bewegung, die ja auch toll ist, die ich im eigenen Haus und bei den Kindern ja auch erlebe.
Aber wenn wir nicht erfahren, nicht erleben, was draußen passiert außerhalb unserer Welt, wenn wir jetzt meinen, dass wir uns nicht mehr informieren, dass wir nicht mehr reisen, dass wir uns nicht in der Welt umschauen, dann schaden wir meines Erachtens den globalen Entwicklungen mehr, als wenn wir zu Hause alles nur beim Einkauf im Bioladen richtig machen. Aber die Welt zu erleben, zu entdecken, zu reisen, Menschen zu begegnen, das ist in der Tat wichtig. Wenn die Folge der Pandemie wäre, dass wir nur noch zu Hause hocken, dann wird unsere Weltperspektive immer enger und dann werden wir auch immer weniger empathisch sein für das, was außerhalb von uns passiert.
Das Gespräch führte Andrea Schwyzer für das Journal auf NDR Kultur.
