NachGedacht: In Meinungsgewittern
Seit Tagen wird über den Krieg in der Ukraine diskutiert. Gut so! Ob es aber der richtige Ansatz ist, einander im Brustton zu beschimpfen? Ulrich Kühn denkt nach.
Haben Sie schon einen offenen Brief unterschrieben? Nein? Sie sollten sich schämen! Es gehört sich, klare Kante zu zeigen. Man hat präzise zu wissen, ob es richtig oder falsch ist, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Man hat exakt zu wissen, ob der Schweregrad dieser Waffen wirklich dem Bedürfnis entspricht, das die Gefechtslage fordert. Man hat auch genau zu wissen, was dahintersteckt, wenn ein US-amerikanischer Geheimdienst verkündet, es seien keine Hyperschall-Raketen geflogen, während die Ukraine von solchen Raketen berichtet. Und selbstverständlich hat man zu wissen, und zwar genau, und zur selben Zeit, was davon zu halten ist, wenn der Corona-Expertenrat ein wichtiges Mitglied verliert und der Corona-Krisenstab seine Existenz.
Man hat zu wissen, was es bedeutet, wenn die Erderwärmung früher, aber vielleicht zunächst nur auf Zeit, eineinhalb Grad plus erreicht. Man hat exakt-genau-präzise zu wissen, was man von alledem hält, weil es sich gehört, eine glasklare Meinung zu haben. Eine bärenstarke Meinung, die kein Einerseits-Andrerseits kennt.
Mutig, anderer Meinung zu sein
Meinungsstärke als Stärke schlechthin, ich weiß, wovon ich rede, mein Beruf ist nicht unanfällig. Wer im Getümmel der Öffentlichkeit keine stahlharte Meinung hat, wer manchmal zaudert, zögert, zweifelt, scheint nicht recht befähigt zu sein, an jenen Debatten teilzunehmen, die zwar nicht wirklich Debatten sind, sondern eher Krawall - der aber so lautstark "Debatte" genannt wird, dass man fast schon mutig sein muss, wenn man das nicht für "Debatte" hält.
Meine Meinung ist diese: Ich finde es durchaus legitim, sich abwägend zu verhalten. Ich halte es für ganz in Ordnung, Pro und Contra zu wiegen und vielleicht sogar einzusehen, dass es Wiegemeister gibt, die das Wiegen besser beherrschen, weil sie mehr von der Sache verstehen. Das ist genauso legitim, wie es legitim ist, als Verfasserin offener Briefe klipp und klar Stellung zu beziehen. Wohl wissend: Wer das tut, hat zwar eine Meinung, aber nicht zwingend deshalb schon recht.
Dem Wägen einen Raum geben
Weniger legitim finde ich: Wenn jemand achselzuckend sagt, ihm gehe das Thema Krieg am Popo vorbei, es sei ein Problem fremder Leute. Wenn jemand es für ausreichend hält, sich in die Ohrensessel uralt-pazifistischer Slogans plumpsen zu lassen. Wenn jemand es oberschlau findet, Unterzeichner offener Briefe allesamt für Idioten zu erklären und für der Hölle entsprungen, weil sie, wenn sie sich erklären, nicht wörtlich dasselbe aufsagen. Kurz, wenn nicht akzeptiert werden will, dass selbst dieser Krieg, bei dem die Frage der Schuld, die Frage nach dem Aggressor völlig geklärt zutage liegt - dass selbst dieser widerwärtige, deprimierend archaische Angriffskrieg nicht davon entbindet, beim Erforschen der eigenen Haltung dem Wägen einen Raum zu geben.
Wo gesagt wird, in einem Krieg gebe es nur noch ein Für und ein Gegen, diesseits wägender Argumente, da will man schon nachfragen: Ist das wirklich so? Ich will die Antwort nicht festgelegt wissen, bevor ich das gefragt haben kann. Und warum will ich das nicht? Weil ich misstrauisch bin. Misstrauisch gegenüber dem lauten Teil der Öffentlichkeit, der schon vor dem Krieg immer ganz genau wusste, was richtig und angezeigt ist.
Modus der Rechthaberei verlassen
Die harten Meinungskämpfe, die wir erleben, haben ihre Vorgeschichte: Sie wurden mit derselben, neuerdings auf oft erstaunliche Weise neu gewendeten Bitterkeit um andere Themen gefochten. Immer, als gäbe es nur Entweder-Oder. Immer in Wut und Empörung. Immer zur Unterstellung bereit. Immer auf dem Sprung - nicht so sehr für das Recht als für die Rechthaberei.
Wir sollten diesen Modus verlassen. Die Frage von Krieg und Beteiligung ist zu existenziell für die kleine lärmende Twitter-Gesellschaft. Die ganze Gesellschaft wird gebraucht bei dieser Diskussion. Sie ist in der Mehrheit recht leise, nicht wütend oder empört. Sie macht sich Gedanken und Sorgen, hat Angst. Dem nicht den nötigen Raum zu geben, es per Moraldekret stillzustellen: Keine sehr brillante Idee, wenn man in den Kampf ziehen will für die offene Demokratie.
