Zeitenwende? "Nein, die Welt war in ihren Ansätzen schon davor so"
Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Bundestag von einer "Zeitenwende" gesprochen und 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitgestellt. Ein Gespräch mit Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik.
Herr von Lucke, was ist das für eine "Zeitenwende", von der Olaf Scholz sprach?
Albrecht von Lucke: Es ist ein ganz schwieriger Begriff. Natürlich hat Olaf Scholz insofern Recht, als dieser absolut völkerrechtswidrige Überfall auf die Ukraine einen so eklatanten Bruch mit dem Völkerrecht darstellt, dass es in der Tat eine Zäsur ist. Aber: Das historische Versagen, von dem Annegret Kramp-Karrenbauer zurecht gesprochen und damit ein Stück weit die gesamte Gesellschaft mitgemeint hat, aber vor allem die Politik, basiert darauf, dass man die Anzeichen dafür, die lange vorher schon im Raum waren, übersehen hat. Beginnend 2008 mit der Intervention Putins in Georgien, aber spätestens 2014 mit der Annexion der Krim konnte man wissen, dass Putin ein Mann ist, der nicht nach den Regeln von Recht und Gesetz herrscht und Politik macht, sondern nach den schlichten Regeln der Macht. Und das ist etwas, was durch diesen Begriff der "Zeitenwende" ein Stück weit kaschiert war. Nein, die Welt war in ihren Ansätzen, jedenfalls im Gedankenkonstrukt Putins, schon davor so. Er hat das bereits im letzten Juni sehr klar ausgedrückt: Sein großer Text, den die Zeitschrift "Osteuropa" als einzige abgedruckt hat, war bereits die absolute Inabredestellung der Existenzgrundlage der Ukraine. Es war ganz klar die Ansage, dass das ein nicht legitimer Staat sei: Wir Groß- und Kleinrussen gehören alle zusammen - inklusive Belarus. Man konnte also ein Stück weit wissen, was Putin im Schilde führt. Die Welt davor war also nicht völlig anders als die Welt danach.
Seit dem Überfall der Russen auf die Ukraine vor vier Tagen haben sowohl die Sozialdemokraten als auch die Grünen viele ihrer Prinzipien über den Haufen gekippt. Wie ist das zu erklären?
Albrecht von Lucke: Es ist meines Erachtens nur durch diesen "Putin-Schock" zu erklären, von dem der Herausgeber der "FAZ", Berthold Kohler, spricht. Dieses Gefühl schlägt wie eine Bombe ein. Wir haben uns alle - es geht um das gesamte Sicherheitsgefühl der Bundesrepublik - auf falschen Koordinaten ausgeruht. Wenn plötzlich der Generalinspekteur des Heeres sagt, wir seien blank, oder Olaf Scholz, der in einer Rede sagte, wir brauchten wieder Schiffe, die in See stechen können, Flieger, die fliegen, und Panzer, die rollen können, dann zeigt das, dass dieser "Putin-Schock" so einschlägt, dass wir plötzlich alle unsere Paradigmen - und da wird es fast problematisch - fast über den Haufen werfen. Man hat den Eindruck, dass wir jetzt vielleicht zu sehr in eine Rüstungslogik kippen - das heißt nicht, dass ich nicht der Meinung bin, wir müssten viel mehr auf die Bundeswehr gucken. Aber wir müssen aufpassen, trotzdem wieder zu einer Kommunikation zu kommen und den Begriff der "Entspannung" nicht plötzlich zu einem Unwort machen. So sehr es richtig ist, dass dieser Paradigmenwechsel, uns wehrtüchtig, abwehrbereit zu machen, geboten ist.
Bei der Sitzung im Deutschen Bundestag war es bemerkenswert, dass dem ukrainischen Botschafter minutenlang stehend applaudiert wurde. Es wurde aber auch eine kriegerische Rhetorik bemüht. Haben wir es da mit einer Art "Eskalation der Rhetorik" zu tun?
Albrecht von Lucke: Nein, das sehe ich nicht so. Dieser Botschafter wurde lange dafür attackiert, dass er Waffen gefordert hat, als Putin noch nicht diesen letzten Schritt gegangen war. Was wir gestern im Bundestag auch erlebt haben, war ein ausgesprochen schlechtes Gewissen einer Bundesregierung, die lange gezögert hat: Der Einsatz ziviler Mittel, militärischer Mittel, vor allem der Ausstieg aus Swift - das ist ihr förmlich abgerungen worden. Insofern sehe ich in diesem Beifall für den Botschafter auch ein ausgesprochen schlechtes Gewissen. Plötzlich wird realisiert, dass ein Land wie die Ukraine das gegenwärtig leistet, was die Bundesrepublik zu unser aller Glück über 70 Jahre nicht leisten musste: in heroischem Mut die Verteidigung ihrer Freiheit. Das kam in diesem Beifall zum Ausdruck. Hier wird stellvertretend durch die Ukraine ein so großer Akt der Verteidigung von Freiheit und Demokratie geleistet, der auch in unserem Sinne ist. Denn stellen wir uns vor, die Ukraine hätte unsere Haltung der letzten 70 Jahre, sich eigentlich nie verteidigen zu müssen, auch getätigt, und dieser Blitzkrieg, von dem Putin offensichtlich ausgegangen ist, hätte stattgefunden - dann hätten wir dieses Fanal eines ungeheuren Freiheitswillens, das in der Tradition von Prag 1968 und Ungarn 1956 steht, nicht erlebt. Wir müssen heute schon von einer ungeheuren Dankbarkeit und Schuld gegenüber den Ukrainern sprechen - aber auch Scham. Und ich glaube, diese Scham kam gestern in diesem minutenlangen Beifall zum Ausdruck.
Das Interview führte Jürgen Deppe.
