Jennifer Weist: "Nackt - Mein Leben zwischen den Zeilen"
Jennifer Weist: lautstarke Stimme gegen Rassismus, Misogynie und Queerfeindlichkeit, Kraftpaket auf der Bühne, in jeder Hinsicht eine Frau mit Haltung. Aber wie ist sie zu der Person geworden, die sie ist? In ihrem Buch "Nackt" erzählt sie dies ungeschönt.
"Du fragst, was Sache ist? Reden wir Tacheles? Ich glaube nicht daran, dass mein Geschlecht das schwache ist." Laut. Feministisch. Jennifer Weist. Seit fast 20 Jahren steht die Sängerin auf der Bühne. Bekannt geworden ist sie mit ihrer Rockband Jennifer Rostock, die gerade pausiert.
Als Solokünstlerin nennt sie sich Yaenniver. Ihr erstes Soloalbum heißt "Nackt", genau wie jetzt auch ihre Autobiographie. Die Metapher hält, was sie verspricht. Weist gewährt intime Einblicke: in ihr Beziehungs- und Sexualleben. Spricht über Drogen, Sexismus und Machtmissbrauch in der Musikbranche.
Kindheit: Verlust und Armut, aber auch Zusammenhalt
Jennifer Weist reist in ihrem Buch zurück in ihre Kindheit nach Mecklenburg-Vorpommern. 1986 wird sie in Wolgast geboren, wächst in Zinnowitz auf Usedom auf. Das Familienglück hält nicht lang: Ihr Vater betrügt ihre Mutter mit deren besten Freundin. Kurz nach der Wende,1992, verlässt er die Familie. Zahlt keinen Unterhalt. Die Mutter versucht sich und ihre Tochter mit mehreren Jobs über Wasser zu halten.
"Und trotzdem hat das nicht funktioniert. Wir hatten sehr, sehr wenig Geld zur Verfügung über sehr viele Jahre hinweg im Monat nur 50 Mark für Essen und Trinken, meine Mutter hat teilweise gar nichts mehr gegessen, um für mich mehr übrig zu lassen, ist an eine Magersucht gerutscht. Ich habe bei einer Nachbarin zum Beispiel gegessen, und es war allgemein, einfach sehr, sehr wenig da", erzählt Jennifer Weist. Mutter und Tochter halten zusammen.
Vergewaltigung: "Die Scham muss die Seite wechseln"
Der Song "Seebrücke" erscheint 2022 auf dem Soloalbum von Jennifer Weist. Angelehnt an die Seebrücke in Zinnowitz. Hier deutet sie zum ersten Mal an, dass sie als Kind vergewaltigt wurde. Im Buch schreibt sie jetzt offen darüber. Und wichtig: über das Gefühl der Ohnmacht danach: "Aber was ist, wenn er weitermacht? Angst. Was ist, wenn mir keiner glaubt? Schuld. Angst. Verzweiflung. Schweigen."
Anfangs hatte Jennifer Weist Zweifel, ob es richtig sei, darüber öffentlich zu reden, ob sich dann nur noch alles darum drehen würde: "Und letztendlich habe ich mich dann ja doch einfach dafür entschieden. Weil also für meine Verarbeitung, für mich, für mein kleines Kind, um das für mich das Erlebte anzunehmen und als ein Teil meines Lebens zu erkennen. Aber eben auch für die ganzen jungen Mädchen und Jungen und Mädchen da draußen, die das Gleiche erlebt haben und die auch wissen sollten, dass sie nicht schuld sind. Und dass die Scham die Seite wechseln muss."
Abkehr von MV, Umzug nach Berlin
Das alles will Jennifer Weist nach dem Abitur hinter sich lassen. Sie habe sich in Mecklenburg-Vorpommern nie richtig zuhause gefühlt, sagt Weist. Auch wegen des Rechtsextremismus in der Region. Laute Klappe, knappe Outfits: Die Person Jennifer Weist polarisiert. Reflektiert und selbstbestimmt, finden Unterstützerinnen. Andere beschimpfen sie als "Männerhassende Zecke", als Reaktion auf ihr Buch.
Wirbel um Absage bei NDR Talkshow
Auf Social Media teilt sie auch selbst aus, in den vergangenen Tagen kritisierte sie den NDR, da sie kurzfristig aus der NDR-Talkshow ausgeladen wurde: "Ich versteh ja, Sex, Drugs und Rock'n'Roll ist vielleicht nicht der richtige Ort dafür. Warum sprechen wir aber nicht über meine Kindheit in MV, über mein Aufwachsen mit rechtsextremen Ideologien, über Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt, Misogynie und Sexismus in der Musikbranche?"
Zu schwere Themen für eine Unterhaltungssendung, begründet die Redaktion ihre Entscheidung. Allerdings habe man sich anders als von Weist dargestellt, keine Exklusivrechte gesichert, heißt es von einer NDR Sprecherin. Und: Weist sei als Gast willkommen, in der NDR Talkshow fürs jüngere Publikum, der Sendung "deep & deutlich".
Kein adäquater Ersatz findet die Künstlerin, die auch gerne ein anderes Publikum ansprechen wollte. Dafür wäre die NDR Talkshow sicherlich ein guter Ort gewesen.
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