Martin Tschechne © Sinja Schwarz Foto: Sinja Schwarz

Warum der Journalismus seine Souveränität besser verteidigen sollte

Stand: 07.05.2022 06:00 Uhr

Die meisten gedruckten Interviews in der deutschen Presselandschaft werden gegengelesen, überarbeitet und dann erst zum Druck freigegeben - und zwar von denen, die interviewt worden sind. Unser Autor Martin Tschechne meint, dass diese Praxis die Souveränität einer freien Presse untergraben kann.

von Martin Tschechne

Zu den kaum umstrittenen Axiomen unserer nervösen Gegenwart gehört die Behauptung, dass Olaf Scholz ein Mann von sehr begrenzten kommunikativen Fähigkeiten sei. Ein rhetorisch unbegabter, verschlossener Mensch: Ein Scholzomat, der seine Gesprächspartner im Interview mit Nicht-Antworten brüskiert und auch Entscheidungen, die das moralische und faktische Überleben einer ganzen Weltordnung betreffen, am liebsten mit sich allein ausmachen möchte. Oder in einem kleinen Kreis von Vertrauten, die genauso wortkarg und verschwurbelt an die Öffentlichkeit treten wie er selbst.

Olaf Scholz' legendäres Interview

Aber dann seine Reden - zur "Zeitenwende" etwa, Ende Februar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, oder zum Tag der Arbeit am 1. Mai: Plötzlich erhebt der sonst so maulfaule Norddeutsche seine Stimme; er lockt und fordert, öffnet sich, wirbt um Verständnis und überhaupt: tritt als Staatsmann auf, der Stellung bezieht und verteidigt und sogar Emotionen zeigt.

Ist das ein Widerspruch? Er könnte sich aufklären in der Erinnerung an das legendäre Interview, das Scholz vor mehr als 20 Jahren der Tageszeitung "taz" gewährte. Oder besser gesagt: ihr vorenthielt. Denn die nachträglich eingefügten Änderungen und Streichungen, die der damalige Generalsekretär der SPD am Manuskript vornahm, waren so flächendeckend und so massiv, dass die Redaktion vor Wut und Ohnmacht schäumte. Am nächsten Tag erschien ein Text im Blatt, in dem nur die Fragen zu lesen, alle Antworten aber geschwärzt waren.

Die Niederlage hatte eine geradezu epochale Dimension, denn der Politiker hatte ein für allemal deutlich gemacht, worum es ging: um die Deutungshoheit im politischen Diskurs, um die Oberhand im täglichen Kleinklein mit einer Presse, die unbequem zu sein hat, die mit ihren Recherchen bisweilen in die Hinterzimmer der Amtsführung vordringt, Skandale hervorzerrt und den langfristigen Perspektiven der Politik durchaus mal in die Quere kommen kann. Es sogar tun muss, denn Streit, Offenlegung und eine bisweilen kleinteilige Kontrolle gehören in einer Demokratie unvermeidlich zum politischen Geschäft. Aber Scholz war es, ganz klar, der bei der "taz" zunächst mal als Sieger vom Platz ging.

"Autorisierte" Interviews sind in Deutschland die Regel

Das Verfahren ist üblich in Deutschland. Es ist die Regel, nicht die Ausnahme, dass Gesprächspartner von Journalistinnen und Journalisten darauf bestehen, ihre Äußerungen nachträglich noch einmal abzuklopfen und sie dann erst zur Veröffentlichung freizugeben, sie also, wie es im Fachjargon erstaunlich schnörkellos heißt, zu "autorisieren". Nur: Wie souverän ist eine Autorität, die mit jedem Schriftstück neu verliehen werden muss?

Es ist auch die Regel, dass Journalistinnen und Journalisten sich darauf einlassen. Zum einen, weil es nun mal so üblich ist und sich kaum noch einer Gedanken darüber macht. Zum anderen aus Sorge, ohne solche Geschmeidigkeit vielleicht gar kein Interview zu bekommen. Schon Helmut Kohl, der ewige Kanzler, hatte der Macht ein Gefälle gegeben und seine trotzige Haltung eisern durchgehalten: Die Damen und Herren vom "Spiegel" und vom "Stern" in Hamburg waren ihm zu frech, zu unbotmäßig, zu wenig unterwürfig; er mochte sie einfach nicht leiden - also gab er ihnen in all den 16 Jahren seiner Amtszeit kein einziges Interview. Den Kollegen von Axel Springer und der "Bild"-Zeitung umso lieber. So geht Politik nach Gutsherrenart.

Und was war das erst für eine Vorlage für Politikerinnen und Politiker sämtlicher Spielklassen, für Finanzmenschen, Theaterintendantinnen, Kleinstadtbürgermeister oder Wissenschaftlerinnen! Seit Kohl und Scholz fühlt sich jeder Befragte legitimiert, ganz offen die Bedingungen vorzugeben: Gespräch nur gegen das Zugeständnis, jedes Wort kontrollieren und bei Bedarf letztgültig umschreiben zu dürfen. Manchmal meldet sich so etwas wie Zweifel; dann kann so ein Gesprächspartner auch schon mal murmeln, es gehe ja eigentlich nur darum, den fertig geschriebenen Text auf Missverständnisse abzuklopfen und sachliche Fehler zu vermeiden. Als wäre es nicht der Autor, der die Konsequenzen zu schultern hat. Und der Journalistenverband DJV sanktioniert das Verfahren gar mit einer eigenen Handreichung: "Die Autorisierung ist im deutschen Journalismus im Gegensatz zum angloamerikanischen üblich, wenn auch nicht zwingend."

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 07.05.2022 | 13:00 Uhr

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