Eine Chatgruppe auf Telegram diskutiert über den Gebrauch von Chlordioxid. © Screenshot

Corona: Ein Gift als vermeintliches Heilmittel für Kinder

Stand: 11.05.2022 14:26 Uhr

Chlordioxid ist ein Bleichmittel. Es gibt aber offenbar Menschen, die es als Heilmittel trinken, sogenanntes CDL. Ärzte warnen vor dieser Ideologie, die wohl immer häufiger auch Kinder gefährdet.

von Marlene Kukral und Amelia Wischnewski

"Ich mache mir große Sorgen um meine Enkelkinder." Mit dieser Nachricht einer Großmutter aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen hat diese Recherche begonnen. Die Frau will ihren echten Namen nicht öffentlich lesen, um ihre Enkel zu schützen. Die Sorgen um die Enkel verbindet sie mit einem Vorwurf an die Mutter der Kinder: "Ich werfe meiner Schwiegertochter vor, dass sie ganz bewusst das Leben und die Gesundheit meiner Enkel aufs Spiel setzt, für eine Ideologie, die sich in ihrem Kopf festgesetzt hat." Die Großmutter sagt, ihre Schwiegertochter soll ihren drei Enkelkindern CDL, also hochkonzentrierte Chlordioxid-Lösung, geben. Das wäre nach dem Gesetz Kindeswohlgefährdung.

Die Mutter hat das Sorgerecht

Die Mutter der Kinder will über den Vorwurf nicht sprechen. Das Telefonat beendet sie abrupt, noch bevor wir unsere Fragen stellen können. Wir versuchen es schriftlich. Aber auch auf unsere E-Mail antwortet sie nicht. Der Vater der Kinder spricht mit dem NDR, gibt ein Interview. Auch er will unerkannt bleiben. Wir nennen ihn Michael. Er mache sich ebenfalls große Sorgen um seine Kinder, sagt er. Von der Kindesmutter lebt er getrennt, das Sorgerecht liegt allein bei der Mutter. Michael darf seine Kinder alle zwei Wochen sehen. 

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Chlordioxid ist kein Heilmittel

Chlordioxid, das ist eine chemische Verbindung, gewonnen unter anderem mit Hilfe von Natriumchlorit und Salzsäure. In Wasser gelöst dient es als Bleiche und ist Bestandteil vieler Desinfektions- oder Reinigungsmittel. Ein Heilmittel ist Chlordioxid nicht, warnen Ärzte und Toxikologen. Chlordioxid mit dem Hinweis auf eine heilende Wirkung zu vertreiben, ist gesetzlich verboten. Trotzdem gibt es offenbar einige Menschen, die CDL einnehmen, um sich gegen Krankheiten wie Corona, Krebs oder Autismus zu schützen. 

"Eine Flasche mit CDL stand immer im Kühlschrank"

"Eine Flasche mit CDL stand immer im Kühlschrank, als wir noch zusammengelebt haben", sagt Michael. Er selbst habe es einmal getrunken, als er krank mit Grippe im Bett lag. Seine Frau habe es ihm damals empfohlen, sagt er. Erst als er später mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag, habe er angefangen, CDL zu hinterfragen. Er befürchtet, dass seine Kinder die giftige Substanz immer noch einnehmen müssen, wenn es ihnen nicht gut geht. Seitdem er nicht mehr im selben Haushalt wohnt, macht er das an Symptomen fest, wenn er die Kinder sieht: Er berichtet von häufigem Durchfall, plötzlichem Erbrechen und ständigen Bauchschmerzen. Einmal sei er mit den Kindern deswegen bei der Kinderärztin gewesen. Die habe die Kinder gefragt, ob sie etwas trinken müssen, das nach Schwimmbad riecht. "Die Kinder haben ja gesagt", erzählt Michael. Die Ärztin habe sofort gewarnt, die Kinder sollten Chlordioxid keinesfalls weiter einnehmen. Seitdem, so erzählt der Vater, versuche er die Kindsmutter von den schlimmen Folgen von CDL zu überzeugen.

Mehr Giftnotrufe wegen CDL seit Corona

Husten, Atemnot, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Schleimhautreizungen im Mund-, Nasen- und Rachenraum, das seien die häufigsten Symptome bei einer Vergiftung mit Chlordioxid gewesen, teilt das Giftinformationszentrum Nord in Göttingen mit. Deren Statistik zeigt: Seit Beginn der Corona-Pandemie sind die Giftnotrufe wegen Chlordioxid in Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein in die Höhe geschnellt: von sieben Notrufen im Jahr 2019 auf 50 im Jahr 2021. Im laufenden Jahr zählt das Zentrum bereits 24 Notrufe wegen Chlordioxid in Norddeutschland.

Fünf Jugendämter in Niedersachsen melden Verdachtsfall

Im Zuge unserer Recherche haben wir alle 54 Jugendämter in Niedersachsen gefragt, ob sie bereits Verdachtsfälle geprüft haben, in welchen Kindern mutmaßlich CDL verabreicht wurde. Die Grafschaft Bentheim ist einer von fünf Landkreisen in Niedersachsen, die im vergangenen Jahr mit einem Verdachtsfall zu tun hatten. "Wenn Kinder Chlordioxid einnehmen müssen, besteht grundsätzlich der Verdacht der Kindeswohlgefährdung", heißt es dort. Wer vermutet, dass jemand Kindern Chlordioxid verabreicht, sollte das dem Jugendamt melden. Das geht auch anonym. Einem Verdacht nachzugehen, ist allerdings schwierig. Zwar überprüfen die Jugendämter einen solchen Verdachtsfall meist mithilfe einer Blutuntersuchung. Aber: "Dem Gesundheitsamt des Landkreises ist nicht bekannt, dass sich Chlordioxid im Körper nachweisen lässt", teilt der Landkreis Grafschaft Bentheim mit. Und vom Landkreis Hildesheim heißt es: "Sofern eine entsprechende medizinische Untersuchung keinen Nachweis ergibt, ist der Fall für das Jugendamt erledigt."

Toxikologe vermutet hohe Dunkelziffer

"CDL ist schwer nachzuweisen", sagt Bernd Mühlbauer, Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Klinikum Bremen. Medizinische Studien über die Anwendung von CDL und die Folgen gebe es keine. Denn man mache keine Studien mit Gift, so Mühlbauer. "Chlordioxid ist eine toxische Substanz. Das kann Schleimhäute auflösen, es kann richtig Löcher in der Haut machen und dementsprechend hat es im und am Körper nichts zu suchen." Erste Anzeichen einer Vergiftung seien Durchfall und Erbrechen. Institutionen wie Schulen und Kindergärten hätten deshalb kaum Chancen zu bemerken, wenn Kinder Chlordioxid bekommen, so der Toxikologe. Durchfall könne ja vieles sein. Er vermutet, dass viele Fälle deshalb im Verborgenen passieren.  

Online verfügbar

Wer im Internet nach CDL sucht, bekommt Anzeigen zu zahlreichen Onlineshops, die CDL verkaufen. Verboten ist die Substanz nicht. In geringen Mengen wird Chlordioxid auch von Kommunen eingesetzt, um stark verunreinigtes Trinkwasser aufzubereiten. Als Heilmittel darf es nicht verkauft werden, da es kein zugelassenes Arzneimittel ist. Auch ein Onlineshop in Hannover bietet CDL an, nach eigenen Angaben für sauberes, keimfreies Trinkwasser. Neben CDL verkauft der Anbieter aber auch Gewürze mit dem Verweis, diese seien auch als Heilmittel einsetzbar. Was auffällt: der Anbieter gibt seinen Hauptsitz im "Königreich Deutschland" an. Das könnte ein Hinweis auf ein bestimmtes Weltbild sein: Das sogenannte "Königreich" ist ein Fantasiestaat der verfassungsfeindlichen Reichsbürger-Szene in Lutherstadt-Wittenberg. Auch Rechtsextremisten schließen sich der sektenähnlichen Gruppierung an, der Verfassungsschutz spricht von einem "gefährlichen Trend". Zu den Reichsbürgern zähle der Online-Shop-Besitzer sich aber nicht, antwortet er auf Nachfrage. 

CDL sogar für Säuglinge

CDL ist vor allem unter Anhängern der Querdenker-Ideologie und in der Esoterik-Szene verbreitet. Auch Michaels Frau soll Querdenkerin sein, erzählt er uns. Bei dem in der Szene beliebten Messenger-Dienst Telegram finden sich Gruppen, in welchen sich Nutzerinnen und Nutzer offen austauschen, wie CDL ihrer Ansicht nach angewendet werden muss. Manche der entsprechenden Gruppen haben fast 15.000 Mitglieder aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Wer hier nach vermeintlichen Informationen sucht, wie CDL bei Kindern dosiert werden sollte, wird schnell fündig. "Wie viel CDL dürfen Babys einnehmen in wieviel Wasser?", fragt etwa eine Nutzerin. Nachrichten wie diese gibt es dort viele. 

Jugendamt hat Fall bereits abgeschlossen

Erst nach der Trennung von seiner Frau hat Michael dem Jugendamt in Lüchow-Dannenberg gemeldet, dass seine ehemalige Partnerin den gemeinsamen Kindern CDL gegeben haben soll. Den Verdachtsfall hat das Jugendamt nach eigenen Angaben geprüft. Die Behauptung habe sich nicht beweisen lassen, schreibt der Landkreis auf Nachfrage. "Die behandelnde Kinderärztin lehnte eine Untersuchung auf die Gabe von Chlordioxid mit der Begründung ab, dass wichtigere Untersuchungen vorrangig durchgeführt werden müssten", heißt es in der schriftlichen Stellungnahme. Die Kinderärztin widerspricht dieser Aussage. Sie habe eine solche Untersuchung nicht abgelehnt, sondern an die Rechtsmedizin verwiesen. "Allgemein ist beim Verdacht einer Körperverletzung im Sinne einer Vergiftung nicht der Kinderarzt, sondern die Rechtsmedizin autorisiert, Beweise zu sichern und eine toxikologische Untersuchung durchzuführen", schreibt die Ärztin dem NDR. Das Jugendamt habe die Rechtsmedizin nicht eingebunden und auch keine anderen Mediziner eingeschaltet, teilt der Kreis auf Nachfrage mit. Stattdessen heißt es: "Hinsichtlich der Vorwürfe zu einer Verabreichung von Chlordioxid gilt der Fall beim Jugendamt als abgeschlossen."

Strafanzeige wegen Körperverletzung

Der Vater der betroffenen Kinder kann das nicht nachvollziehen. Michael hat seine ehemalige Partnerin nun wegen Körperverletzung angezeigt. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg bestätigt entsprechende Ermittlungen. 

Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 11.05.2022 | 19:30 Uhr

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