VIDEO: SS-Mann Erich Gust: Als Franz Giese in Melle untergetaucht (2 Min)

Der KZ-Offizier, der ein Promi-Restaurant in Melle führte

Stand: 08.05.2025 05:00 Uhr

Erich Gust soll im KZ Buchenwald getötet haben. Nach dem Krieg tauchte er unter falschem Namen in Melle unter und führte ein angesehenes Restaurant. Die Stasi wusste davon, hat ihn aber nie verraten.

von Josephine Lütke

Neben dem Kamin an einem runden Tisch hat Fritz-Gerd Mittelstädt früher jede Woche gesessen. Er war Lehrer in Melle und ab den 70er-Jahren ging er immer montags nach dem Sport mit den Kollegen in den "Heimathof". "Zum Umtrunk, Kartenspiel", sagt er. Betrieben wurde das Restaurant damals von Familie Giese. Franz Giese stand in der Küche, erinnert sich Mittelstädt. "Das, was er auf den Tisch gebracht hat, war immer gut und galt als feine Küche", sagt er. Sonst habe sich Franz Giese eher zurückgehalten, sei immer bescheiden gewesen und habe sich meist in der Küche oder an der Küchentür aufgehalten.

Auffällig sei gewesen, dass er immer einen großen Schäferhund bei sich hatte. Und seine "sprachliche Färbung" habe verraten, dass er nicht aus der Gegend kommt, erinnert sich Mittelstädt. In der Zeit nach dem Krieg sei das allerdings nicht verwunderlich gewesen. Viele Geflüchtete aus den ehemaligen Ostgebieten hatten in Melle eine neue Heimat gefunden.

Erich Gust war Zweiter Schutzhaftlagerführer in Buchenwald

Der "Heimathof" in Melle, ein Fachwerkhaus umgeben von Bäumen. © NDR
Das Restaurant "Heimathof" in Melle gibt es noch heute.

Der Kollegen-Stammtisch von Fritz-Gerd Mittelstädt hatte keine Ahnung, wer ihnen im damaligen "Heimathof" das Essen kochte. Franz Giese hieß eigentlich Erich Gust. Gust war SS-Offizier, Obersturmführer erst im Konzentrationslager Stutthof und ab 1942 im KZ Buchenwald bei Weimar in Thüringen. Dort war er der zweite sogenannte Schutzhaftlagerführer. Er war also "kein kleiner SS-Mann. Er war aufgrund seiner Stellung ein Mann mit einer maßgeblichen Macht auch über die Häftlinge", sagt Michael Löffelsender, Historiker in der Gedenkstätte Buchenwald. Die Schutzhaftlagerführung leitete das Häftlingslager, überwachte und kontrollierte den Alltag der Häftlinge.

"Besonders brutal und rücksichtslos"

Ein historisches Foto eines Gebäudes des KZ Buchenwald © Sammlung Gedenkstätte Buchenwald
In diesem Gebäude soll das sogenannte "Kommando 99" insgesamt 8.000 sowjetische Kriegsgefangene mit einer Genickschussanlage getötet haben. Auch Erich Gust soll dabei gewesen sein.

Einige der Überlebenden erinnern sich nach dem Krieg und nach der Befreiung des Konzentrationslagers an Erich Gust und an das, was er ihnen angetan haben soll. In historischen Protokollen kann man die Aussagen bis heute nachlesen: "Obersturmführer Gust hat wiederholt in meiner Gegenwart Häftlinge auf das Brutalste behandelt und hetzte des Öfteren seinen Wolfshund auf die Häftlinge", berichtet ein Häftling. Ein anderer habe beobachtet, wie Gust Häftlinge so lange mit Knüppeln schlug, bis sie zusammenbrachen. Gust wird von den Häftlingen als besonders brutal und rücksichtslos beschrieben.

Wurst, Zigaretten und Schnaps für die Mörder

Ein historisches Schriftstück zur "Sonderzulage" für SS-Offiziere des "Kommando 99" © NDR
Die SS-Offiziere des "Kommando 99" im KZ Buchenwald erhielten für die Exekutionen eine "Sonderzulage".

Außerdem soll Gust am sogenannten Kommando 99 beteiligt gewesen sein. Das ist der größte Massenmord, der im Konzentrationslager Buchenwald vollzogen wurde. 8.000 sowjetische Kriegsgefangene wurden in einem umgebauten Pferdestall getötet. Die SS-Offiziere, verkleidet als Ärzte, gaukelten ihnen eine Untersuchung vor. Stattdessen wurden sie mit einer Genickschussanlage von hinten erschossen. Teilweise waren es mehrere Hundert Menschen pro Nacht. Als Belohnung für die SS gab es "pro Mann und Tag 100 Gramm Wurst, fünf Zigaretten und 0,2 Liter Schnaps". Das geht aus historischen Unterlagen hervor, auch Historiker Löffelsender bestätigt das.

Neuer Name nach dem Krieg

Nach dem Krieg tauchte Erich Gust unter, gab sich kurze Zeit später einen neuen Namen: Franz Giese. Auch das geht aus historischen Dokumenten hervor. Auf seiner Eheurkunde aus dem Jahr 1946 taucht der falsche Name das erste Mal auf. Gust alias Giese lebte erst bei Braunschweig, später am Dümmer See und ab 1966 in Melle, wo er den "Heimathof" mit seiner Familie übernahm. Das Restaurant wurde schnell überregional bekannt. Eine gute Adresse, etwas schicker - auch für die Prominenz. "Es war die gute Stube", sagt der Historiker und heutige Ortsbürgermeister von Melle Mitte, Uwe Plaß.

Stars aus Film und Fernsehen wie zum Beispiel die Schauspieler Hans-Joachim Kulenkampff und Willy Millowitsch seien hierher zum Essen gekommen und auch Politiker wie Bundesminister Herbert Wehner (SPD) sollen hier eingekehrt sein. "Wenn man sich mal richtig was gönnen wollte am Hochzeitstag, dann ging man hierhin", sagt Plaß.

Die Stasi war regelmäßig in Melle

Ein Stapel von verschiedenen historischen Dokumenten zum Fall Erich Gust © NDR
Die Stasi hat Franz Giese alias Erich Gust über Jahre bespitzelt. Hunderte Seiten von Akten liegen zu dem Fall im Stasi-Unterlagen-Archiv.

Doch nicht nur die Prominenz ging damals ein und aus im "Heimathof", sondern auch die Stasi. Der Nazi Erich Gust wurde im Westen und auch international gesucht. Es gab rund ein Dutzend Ermittlungsverfahren gegen ihn. Unterdessen hatte die DDR ihn längst gefunden. Bis heute liegen die Akten in Berlin im Stasi-Unterlagen-Archiv. Es sind Hunderte Seiten mit Schriftstücken aus Buchenwald, Fotos von Gust und dem "Heimathof" in Melle und auch heimlich aufgenommene Filmaufnahmen von den verschiedenen Wohnorten der Familie Giese.

Der DDR-Geheimdienst hat Franz Giese über Jahre bespitzelt, ihn und seine wahre Identität allerdings nie verraten. Warum die Stasi ihn nicht enttarnte, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Warum die DDR Interesse an Erich Gust hatte, allerdings schon. Denn es gibt Aussagen von Überlebenden, die Gust eine Tatbeteiligung an der Ermordung des Kommunistenführers Ernst Thälmann zuschreiben. Thälmann war am 18. August 1944 in Buchenwald ermordet worden. "Und die Ermordung Thälmanns war ein zentrales Thema in der DDR und man versuchte alle Tatbeteiligten aufzuspüren", sagt Historiker Löffelsender.

In den 90er-Jahren kommt die Wahrheit ans Licht

Porträt von Fritz-Gerd Mittelstädt, der sich sich noch an den ehemaligen Betreiber und Koch des "Heimathofs" in Melle Franz Giese erinnert, der eigentlich Erich Gust hieß. © NDR
Fritz-Gerd Mittelstädt erinnert sich noch an den ehemaligen Betreiber Franz Giese, der eigentlich Erich Gust hieß.

Anfang der 90er-Jahre, nach dem Zusammenbruch der DDR, kam die Geschichte durch die Stasi-Akten ans Licht. Der ehemalige Stammgast Fritz-Gerd Mittelstädt sei damals aus allen Wolken gefallen, sagt er. "Das war natürlich komisch. Damals merkte man, dass die Zeit des Dritten Reiches irgendwie nicht abgeschlossen war", so Mittelstädt. "Und, dass ein solcher Fall der Justiz und der Forschung durch die Lappen gegangen ist, das hat einen schon gewundert." Erich Gust alias Franz Giese starb 1992 in Osnabrück.

Die Besitzer des "Heimathofs" in Melle haben seither mehrere Male gewechselt. Doch vergessen ist die Geschichte nicht. Die heutige Betreiberin wird immer mal wieder darauf angesprochen, sagt sie. Meist von älteren Besuchern, die ihr von Franz Giese erzählen. Fritz-Gerd Mittelstädt ist es heute wichtig, vor allem junge Menschen über solche Biografien zu informieren. Denn "diese Zeit ist vergangen und gleichzeitig nicht vergessen".

Gust ist kein Einzelfall

Allein im Konzentrationslager Buchenwald kamen 56.000 Menschen um. Von 9.000 SS-Männern und Aufseherinnen wurden nur 79 nach 1945 verurteilt. Und auch Erich Gust alias Franz Giese kam ungestraft davon.

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