Putins Krieg in der Ukraine: Das Ende unserer Illusionen
Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke widmet sich in seinem Essay der Neujustierung der politischen Landschaft - und damit zugleich den, wie er findet, lange gehegten deutschen Illusionen über die globale Ordnung seit dem Kalten Krieg.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat in der internationalen, aber vor allem in der deutschen Politik eine "Zeitenwende" herbeigeführt, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es nannte. Man könnte es allerdings auch - und vermutlich sogar weit treffender - das Ende unserer Illusionen nennen.
Seit 1989 und dem Zerfall des Warschauer Paktes als dem vermeintlichen "Ende der Geschichte" wähnte sich speziell die Bundesrepublik im Besitz einer Friedensdividende. Ein neuer großer Krieg auf europäischem Boden galt als unmöglich. Der Putin-Schock, Putins Invasion in die gesamte Ukraine, hat dieser Illusion ein brutales Ende gemacht und die Ampel-Regierung eiskalt erwischt.
Wenn der Bundeskanzler daraufhin ein Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro wie auch die Übererfüllung des 2-Prozent-Zieles für den Rüstungshaushalt verkündete und die ganz große Mehrheit des Bundestages stehend applaudierte, dann war dies vor allem Ausdruck des schlechten Gewissens, dieser Friedensillusion über Jahrzehnte angehangen zu haben.
Die Notwendigkeit der Landesverteidigung
Jetzt also erfolgt die 180-Grad-Wende - allerdings gerade nicht im Sinne einer neuen, aggressiv expansiven Militarisierung der Außenpolitik, sondern als das reine Gegenteil, nämlich als die Rückbesinnung auf die Notwendigkeit der Landesverteidigung, wie sie im Grundgesetz verankert ist.
Als der deutsche Kanzler im Bundestag verlangte, "wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind", war dies ein politischer Offenbarungseid - nämlich das Eingeständnis, dass das Land faktisch nicht einmal bedingt abwehrbereit ist. "Wir sind blank", brachte der höchste General des Heeres die militärische Lage in regelrecht entwaffnender Ehrlichkeit auf den Punkt.
Dieser fatalen Situation mit der faktisch "zweiten Wiederbewaffnung" der Bundesrepublik ein Ende zu machen, war für die Ampel-Regierung das Gebot der Stunde.
Wir brauchen eine völlige Neuorganisation der Armee
Doch tatsächlich ist mit den beschlossenen Milliarden die Aufgabe nicht gelöst. Denn das Problem liegt tiefer. Schon bisher war die Bundeswehr ein wahres Bürokratiemonster, das Unsummen verschlang, ohne dafür nennenswerte Resultate zu erzeugen. Tatsächlich liegt der deutsche Verteidigungsetat mit 52 Milliarden pro Jahr nur zehn Milliarden unter dem Russlands, ohne dass unsere Streitkräfte auch nur annähernd so schlagkräftig wären. Worauf es deshalb militärisch vor allem ankommt, ist die völlige Neuorganisation der Armee - nicht zuletzt ihres unüberschaubaren Beschaffungswesens.
Die eigentliche Aufgabe geht aber noch darüber hinaus. Gefragt ist angesichts des Putinschen Expansionismus eine regelrecht geistig-moralische Wende, im Sinne der mentalen Verteidigungsbereitschaft unserer Demokratie.
"Putins Playbook": Wir waren gewarnt
In den letzten Jahren ist der Zweifel an unserer Regierungsform auch bei uns immer mehr gewachsen. Es ist noch nicht lange her, dass auf den diversen Pegida- oder Anti-Corona-Demonstrationen der Ruf "Putin hilf" erscholl. Dabei wird man eines dem russischen Despoten nicht vorwerfen können: dass wir nicht gewarnt gewesen wären. Dass er uns nicht längst in Syrien als seinem Truppenübungsplatz gezeigt hätte, zu welchen Kriegsverbrechen er in der Lage ist. Und dass er uns nicht gesagt hätte, was er tatsächlich mit der Ukraine vorhat - weit über die Annexion der Krim hinaus.
Bereits im Juni 2021 beschwor Putin in einem großen Aufsatz die "historische Einheit" von Russen und Ukrainern; schon da sprach er der Ukraine ihr Existenzrecht ab. In seiner hasserfüllten Rede am 24. Februar, mit der er der Ukraine den Krieg erklärte, verkündete er dann, dass ihre Menschen "durch Blut, durch Familienbande mit Russland verbunden" seien - und dass das Land deshalb keinen Anspruch auf Unabhängigkeit habe.
Mit dem Einmarsch der russischen Truppen lief insofern nur "Putins Playbook" ab, wie es US-Vizepräsidentin Kamala Harris nannte. Wir hätten seine Worte nur lesen oder nach Syrien schauen müssen. Doch warum haben wir es davor einfach nicht getan?
Putins nützliche Idioten
Die Antwort ist bestürzend einfach: Weil wir nicht akzeptieren wollten, dass die globale Ordnung seit dem Ende des Kalten Krieges eben nicht allein den Prinzipien von Recht und Gesetz folgt. Und weil wir nicht bereit waren, die harten, auch militärischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Putin hat uns nun eines Schlechteren belehrt. Jetzt erhalten wir die Quittung dafür, dass wir ihn nicht hinreichend ernst und beim Wort genommen haben. Das gilt insbesondere für die speziellen "Putinversteher" von Gerhard Schröder bis Sahra Wagenknecht. Letztere gab sich noch am Tage vor Putins Kriegserklärung absolut von dessen Friedfertigkeit überzeugt. Das Problem von Wagenknecht und Co. war also gerade nicht, dass sie echte "Putinversteher" gewesen wären. Das Problem ist vielmehr, dass die vermeintlichen "Putinversteher" ihn am wenigsten verstanden. Sie glaubten vielmehr, ihn besser zu verstehen als er sich selbst - und wurden so mit ihrer Schönfärberei zu Putins nützlichen Idioten.
Letztlich trifft dieses Versagen aber uns alle: Wir alle haben unsere eigene zivile Logik verabsolutiert, als alternativlos angenommen. So sind wir uns selbst auf den Leim gegangen. Beseelt von der vermeintlichen Friedensdividende, haben wir die Bedeutung des Militärischen sträflich unterschätzt.
- Teil 1: Die Notwendigkeit der Landesverteidigung
- Teil 2: "It’s the military, stupid!"
