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Harald Welzer: Waffenlieferung könnte den Krieg entgrenzen

Stand: 09.05.2022 10:00 Uhr

Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat einen offenen Brief an Bundeskanzler Scholz mit unterschrieben und tritt dafür ein, keine weiteren schweren Waffen mehr an die Ukraine zu liefern.

von Stefan Schlag

In der Sendung "Anne Will" sagte Welzer, ""die Frage der permanenten Aufrüstung hat ja kein logisches Ende". Er plädierte daher erneut für das Ausloten einer Verhandlungslösung. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hat dafür wenig Verständnis: "Das, was sie bieten, ist aus unserer Sicht moralisch verwahrlost", sagte er. Insgesamt 26 Vertreterinnen und Vertreter von Kultur und Wissenschaft hatten sich eingemischt in die Debatte über deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine. In einem offenen Brief an Bundeskanzler Scholz warnten sie vor der Gefahr eines Atomkrieges. Zu den ersten Unterzeichnern gehört der Sozialpsychologe Harald Welzer. NDR Kultur hat nach der Veröffentlichung des Briefes mit ihm gesprochen.

Herr Welzer, im Netz gibt es nach Ihrem offenen Brief auch viel Kritik, Häme teilweise. Haben Sie das so erwartet?

Harald Welzer: Natürlich, und zwar deswegen, weil es eine völlige Verengung der Debatte gegeben hat. Wir haben nach Umfragen in der Bevölkerung ungefähr einen Anteil von der Hälfte, die für die Lieferung schwerer Waffen ist, und die Hälfte, die dagegen ist. Wir haben aber in der medialen Öffentlichkeit ein völlig anderes Verhältnis. Da herrscht Meinungsmonokultur und der Wunsch nach schweren Waffen ist relativ eindeutig. Insofern war es klar, dass es erst einmal Widerspruch und Irritation auslöst, wenn wir das machen.

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Inhaltlich kann ich auf unserer Seite sagen, dass wir beide Seiten ausgewogen abbilden. Das nehme ich für uns in Anspruch. Warum sollte ein vermeintliches Kriegsrisiko, also dass sich das möglicherweise bis zu einem Atomkrieg ausweitet, ausgerechnet von Scholz‘ Verhalten abhängen? Andere Nato-Partner gehen doch längst viel weiter.

Welzer: Die Frage ist falsch. Wir müssen gucken, ob eine ständige Zufuhr von sich in Quantität und Qualität steigernden Waffen geeignet ist, einen Krieg zu beenden. Wahrscheinlich ist das eher geeignet, einen Krieg zu eskalieren und, wenn es am besten ausgeht, auf Dauer zu stellen, ohne dass er sich in einen Atomkrieg ausweitet. Jürgen Habermas hat darauf hingewiesen, dass ein Atomkrieg nicht im herkömmlichen Sinne gewonnen werden kann. Ein Bundeskanzler, eine Bundesregierung steht jetzt vor dem Problem, nicht das Risiko eingehen zu können, das uns ein solches Ereignis herbeiführt, nachdem nichts mehr so ist, dass es etwas mit Zivilisation zu tun hat. Diese Frage ist nicht trivial. Die gehört in einer vernünftigen Debatte an einer vernünftigen Abwägung entschieden und nicht aus Druck.

Wie würden Sie den Menschen in der Ukraine erklären, die von Russland überfallen und mit großer Brutalität angegriffen wurden, dass sie keine Waffen bekommen, um sich zu verteidigen?

Welzer: Die haben zwei Monate lang Waffen bekommen. Bevor man diese eindimensionale Richtung des Handelns weiter fortsetzt, muss man doch die andere Option, nämlich zu Verhandlungen zu kommen, auf welchem Wege auch immer, schon alleine deswegen wählen, um eine Unterbrechung der Logik der Gewalt zu machen. Der Aggressor hat Gewalt ausgeübt und damit die Situation definiert. Was ist das für eine Haltung von Seiten derjenigen, die die Ukraine verteidigen, nur in der Logik des Aggressors, nämlich mit gesteigerter Gewalt, zu antworten? Wir sind doch zu mehr in der Lage und müssen alle Handlungsoptionen mindestens offen halten und ventilieren.

Es haben viele versucht, mit Putin zu reden. Das hat ja bisher nicht funktioniert.

Welzer: Das kann doch kein Argument sein, zu sagen: Dann hauen wir drauf.

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Die Menschen in der Ukraine wollen sich ja verteidigen.

Welzer: Es gibt verschiedene Logiken. Niemand wird in Abrede stellen, dass die Ukrainer aus ihrer Sicht, ihrer Lage, ihrer fürchterlichen Betroffenheit heraus alles fordern, alles tun, um sich verteidigen zu können. Die umliegenden Beteiligten können aber nicht einzig dieser Logik folgen. Die Problematik einer Entgrenzung oder Ausweitung des Krieges würde für den Kriegsverlauf in der Ukraine nichts Großes oder Gutes bedeuten, sondern würde bedeuten, dass die Zahl der Opfer im gleichen Maße in den umliegenden Kriegsregionen anwächst. Das kann von der Logik her niemand wollen. Die Ratio kann nur sein, dass wir auf zwei verschiedenen Ebenen operieren müssen: Das eine ist, die Ukraine zu unterstützen, wie es über die Sanktionen gemacht wird, und das andere kann sein, dass wir auf der internationalen Ebene alles dafür tun müssen, dass sich dieser Krieg nicht entgrenzt und ausweitet.

Mal angenommen, die Ukraine bekäme keine Waffen mehr und könnte sich nicht mehr verteidigen. Was dann passieren würde, wäre klar. Russland würde Städte und Gebiete einnehmen. Was würde dann aus der Ukraine?

Welzer: Drehen Sie das Spiel doch mal um und schauen Sie, was passiert, wenn die Eskalation auf der Ebene der Waffenzufuhr weitergeht? Die positivste Variante, die daraus resultiert, ist ein dauerhafter Abnutzungskrieg, weil sich zwei annähernd gleichstarke Partner gegenüberstehen. Das heißt über Jahre hinaus einen Abnutzungs- und Zermürbungskrieg mit zehntausenden, hunderttausenden von Opfern und die ganze Zeit dieselbe Situation, die wir jetzt haben: immer die Gefahr der Entgrenzung und der Herstellung eines Atomkriegs. Wir sind jetzt gerade in der Diskussion, wo wir keine eindeutige Lösung haben. Die Befürworterseite tut immer so, als sei vollkommen klar, was man zu tun hat. Wir haben aber objektiv eine Situation, die viel komplexer ist, als zwischen gut und böse, richtig und falsch zu entscheiden. In so einer Situation ist es absolut notwendig, alle Optionen ins Spiel zu bringen. Deshalb haben wir den Brief geschrieben.

Es könnte aber auch sein, wenn sich die Ukraine nicht mehr wehren könnte, dass Putin dann auf die Idee käme, möglicherweise sein Interesse auf andere Länder auszudehnen. Sehen Sie die Gefahr nicht auch?

Welzer: Natürlich sehe ich die Gefahr, aber wir bewegen uns ja, was die Prognosen angeht, im wenn-dann-alle beide gleichermaßen im Bereich der Spekulation. Und dann würde ich immer sagen, wenn wir kein Drehbuch haben, kein Skript, keine gesicherten Prognosen, keine belastbaren Prognosen, dann ist es immer besser, sich zu versuchen auf der sicheren, also der nicht eskalierenden Seite zu bewegen.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Kultur | 03.05.2022 | 07:40 Uhr

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