"Das absolute Feindbild von Incels ist der Feminismus."
Mit "Borowski und die Angst der weißen Männer" greift der "Tatort" ein hochaktuelles Thema auf: Frauenhass. Autorin Veronika Kracher hat sich mit unfreiwillig zölibatären Männern (Incels) befasst.
Sie haben viele Jahre über die Incel-Subkultur geforscht und Ende 2020 das Buch "Incels" über den neuen Antifeminismus veröffentlicht. Zeichnet der "Tatort" ein realistisches Bild dieser Bewegung?
Veronika Kracher: Was der "Tatort" sehr gut aufzeigt, ist die Verbindung von Manosphere, also dem Online-Netzwerk antifeministischer Männergruppen, und Rechtsradikalismus. Der Film macht deutlich, dass der Frauenhass der "Involuntary Celibates" - "der unfreiwillig im Zölibat lebenden Männer" - ein Türöffner in rechtsradikales Denken ist. Auf rechten Internetforen und Imgageboards wie "8kun" oder "Kohlchan" ist eine neue Generation von Terroristen herangewachsen, die alle den gleichen Tätertypus verkörpern: den narzisstisch gekränkten, in der Regel weißen Mann, der in einem Terroranschlag eine Wiedergutmachung seiner vermeintlichen Kränkung durch Frauen sieht. Ich finde es toll, dass der "Tatort" ein so wichtiges Thema aufgreift und Haltung zeigt.
Erfüllt die Filmfigur des Mario Lohse diesen Typus?
Kracher: Mario ist ein typischer Incel. Auf der einen Seite evoziert er immer wieder Mitleid. Man denkt, ach, das ist doch nur ein schüchterner junger Mann, den man eigentlich nur in den Arm nehmen braucht, dann wird er schon begreifen. Auf der anderen Seite spürt man, Mario ist ein Frauenfeind, ein potenzieller Gewalttäter, und er ist kein Einzelfall. Der Film stellt sehr gut dar, dass Mario ein virtuelles Umfeld hat, das ihn in seinem Frauenhass bestätigt und dazu bringt, sich zu radikalisieren. Treffend finde ich auch geschildert, wie zynisch der Umgang der Mitglieder dieser Community untereinander ist. Mario wird im Online-Chat als Loser beschimpft, der nicht "herumnerven" soll, sondern sich erst einmal durch brutale Taten als Mann beweisen muss, bevor ihn die Gruppe akzeptieren kann. Ich habe mich übrigens gefragt: War es eigentlich Absicht, dass Mario, nachdem er sich eine Glatze rasiert hat, so aussieht wie Stefan B., der Attentäter von Halle? Die Ähnlichkeiten sind frappierend.
Was entspricht in Ihren Augen überhaupt nicht der Wirklichkeit?
Kracher: In einem Punkt ist der Film eher Wunschbild als Wirklichkeit. Ich würde mir reale Polizisten wünschen, die sich so verhalten wie Kommissar Klaus Borowski, der ein feministisches Bewusstsein hat. Bei seinen Ermittlungen ist ihm der Frauenhass direkt bewusst, und Borowski zeigt keinerlei Verständnis für Sexismus und Misogynie. Ich habe schon so viele Bedrohungen und Belästigungen im Internet erfahren, doch wenn ich zur Polizei gehe, bekomme ich meistens zu hören: Tut uns leid, da können wir nichts machen.
Woher kommt der Frauenhass der Incels?
Kracher: Incels sehen sich als die größten Opfer unserer Zeit. Schuld an ihrem Status sind die Frauen, die ihnen das - nach ihrem Verständnis - naturgegebene Recht auf Sex verweigern, weshalb sie zu einem elendigen Leben in Jungfräulichkeit und Einsamkeit verdammt sind. Ihr absolutes Feindbild ist der Feminismus, der den Frauen die Möglichkeit zur freien Partnerwahl gegeben hat. Die Incels glauben, sie hätten in der "genetischen Lotterie" den Kürzeren gezogen. Sie seien viel zu unansehnlich, um den oberflächlichen weiblichen Vorstellungen von Attraktivität zu genügen. Frauen würden ausschließlich so genannte "Chads", also groß gewachsene und muskulöse "Alphamänner" begehren. Deshalb blieben für Incels keine Frauen mehr übrig. Als Lösung schlagen sie eine staatliche Zuteilung von Frauen vor, was natürlich vollkommen lächerlich ist. Aber dahinter verbirgt sich eine gefährliche Ideologie, nach der Frauen nichts anderes als Sexobjekte sind, die dem Mann untertan gemacht werden müssen.
Wie der "Tatort" zeigt, wird diese Weltanschauung von Männerrechtsaktivisten und Pick-Up-Artists verbreitet, die Incels wie Mario in Videos und in Seminaren Tipps geben, wie man Frauen aufreißt. Und wie man sie dahin zurückdrängt, wo sie hingehören: in die Küche und ins Ehebett. Sie hängen dem Irrglauben an, dass wir in einer "Femokratie" leben, in der Männer gesellschaftlich unterdrückt, abgehängt und ihrer Männlichkeit geradezu beraubt sind. Ihren Anhängern verschreiben sie die sogenannte "Redpill"-Ideologie, wonach die "Femokratie" besiegt werden könne, indem sie ihre soldatische Männlichkeit wiederentdecken, Frauen unterdrücken und antifeministisch aktiv werden.
Wird das Problem von deutschen Behörden nicht ernst genug genommen?
Kracher: Ja, dafür gibt es zwei Gründe. Erstens sind die Behörden nicht so internetaffin, wie es nötig wäre. Deshalb haben sie das Gefahrenpotenzial online radikalisierter Männer nicht im Blick. Der Prozess um den Attentäter von Halle hat die Versäumnisse aufgezeigt. Zweitens zeigt sich ein geringes Bewusstsein für das Problem der Gewalt gegen Frauen. Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder von ihrem Ex getötet. Dennoch sind Femizide, die Tötung von Frauen und Mädchen wegen ihres Geschlechts, noch kein eigener Straftatbestand. Und die sexuelle Belästigung steht erst seit Ende 2016 im Strafgesetzbuch.
Wie groß ist die Terrorgefahr, die von Incels ausgeht?
Kracher: Nicht jeder Incel ist ein potenzieller Terrorist. Um die Gefährdung zu beurteilen, finde ich aber den Begriff des stochastischen Terrorismus hilfreich. Wegen der permanenten Dehumanisierung der Frauen und der Glorifizierung der männlichen Attentäter in den Incel-Foren wächst die generelle Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand einen Anschlag begeht. Wenn man sich permanent in dieser Echokammer aufhält und gegenseitig aufstachelt, steigt die Chance, dass es irgendwann passiert.
Werden die Incels von rechtsextremistischen Gruppen instrumentalisiert?
Kracher: Rechte Männergruppen wie die "Proud Boys", die ein faschistisch-soldatisches Männerbild propagieren, lehnen die Incels ab und verhöhnen deren Selbstmitleid. Es gibt aber eine Reihe von ideologischen Überschneidungen zwischen Incels und rechten Gruppen, vor allem in Bezug auf Antifeminismus und Antisemitismus. Und obwohl es viele nichtweiße Incels gibt, hängen sie doch häufig der rassistischen Ideologie der "Weißen Vorherrschaft" an. Außerdem bedienen sich inzwischen Mitglieder der "Identitären Bewegung" einer ähnlichen Sprache und ähnlichen Memes wie die Incels, um ein junges, auf Imageboards radikalisiertes Publikum zu erreichen.
Wie stoppt man diese Frauenhasser?
Kracher: Ich halte Deplatforming, also das Schließen von rechten Foren und das Löschen dementsprechender Accounts, für eine zwingende Notwendigkeit und eine erste Strategie. Schon allein deshalb, weil diese Foren für die User selbst psychisch schädlich sind. Die Incels geben an, depressiv zu sein und unter Angststörungen zu leiden. Sie würdigen sich gegenseitig herab: Du bist hässlich, du bist nichts wert! Es dauert nur wenige Klicks, schon ist man mit Suizidandrohungen konfrontiert. Wenn sich ein Incel umbringt, heißt es dann, Frauen haben ihn ermordet: Hätten sie mit ihm geschlafen, würde er noch leben. Jede Minute, die junge Männer nicht an diesen Orten verbringen, ist eine Minute ohne psychische Gewalt. Dennoch setzt Deplatforming zu spät an. Der grundlegende Schaden ist bereits in ihrer männlichen Sozialisation angerichtet. Um von vornherein zu verhindern, dass aus Jungen Frauenhasser werden, brauchen wir eine genderspezifische Pädagogik, dann eine kritische Männerarbeit und eine feministische Gesetzgebung.
Wie wird der "Tatort" wohl bei den Incels ankommen?
Kracher: Ich kann Ihnen garantieren, dass die Community behaupten wird: "dieser 'Tatort' stellt uns völlig falsch dar". Die Incels werden jede Verbindung zum Rechtsextremismus leugnen. Alle Artikel oder Filme, in denen sie nicht als bemitleidenswerte Opfer rüberkommen, werden von ihnen als persönlicher Angriff gewertet. Sie haben sich ein tiefes Loch gegraben, aus dem viele ohne Hilfe nicht herauskommen. Eigentlich bräuchte es Ausstiegshilfen aus der Maskulinisten-Szene, so wie es sie bereits für Rechtsextremisten oder Sektenmitglieder gibt.
Das Interview führte Helmut Monkenbusch, freier Autor.
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