Beginn des Auschwitz-Prozesses 1963 in Frankfurt am Main. © picture alliance / AP Photo

Auschwitz-Prozess 1963: Als Leugnen nicht mehr möglich war

Stand: 20.12.2023 05:00 Uhr

In einem der größten Prozesse der deutschen Nachkriegszeit wurden ab dem 20. Dezember 1963 in Frankfurt die NS-Verbrechen von Auschwitz verhandelt. Zeitgleich debattierte die Öffentlichkeit über die Verjährung nationalsozialistischer Taten.

von Ulrike Bosse, NDR Info

"Der Weihnachtsmarkt in Frankfurt, wunderschön. Und wir ein Stockwerk höher haben da den Prozess begonnen." Es sind oft Nebensächlichkeiten, die sich einem Zeitzeugen einprägen. Wie der Weihnachtsmarkt, an den sich Gerhard Wiese erinnert, einer der Staatsanwälte im Frankfurter Auschwitz-Prozess, in dem es um eine grausame Wahrheit ging, die in so starkem Kontrast zur frohen Stimmung des Weihnachtsmarkts stand.  

Wichtigstes Verfahren gegen NS-Verbrecher in Deutschland

Angeklagte und ihre Anwälte im Frankfurter Auschwitz-Prozess. © dpa - Bildarchiv
22 SS-Wachleuten und Lager-Ärzten von Auschwitz wurde ab 1963 in Frankfurt der Prozess gemacht.

Am 20. Dezember 1963 begann mit dem Prozess im Frankfurter Römer der erste von drei Auschwitz-Prozessen in Frankfurt - es war einer der größten Prozesse der Nachkriegszeit in Deutschland und das bis dahin wichtigste Verfahren gegen NS-Verbrecher in Deutschland. Was ihn von anderen Gerichtsverhandlungen zu NS-Verbrechen unterschied: Hier wurde nicht ein Aspekt herausgegriffen, sondern das ganze Ausmaß des Grauens in Auschwitz wurde deutlich und das System dahinter.

Angeklagte und ihre Anwälte im Frankfurter Auschwitz-Prozess. © dpa - Bildarchiv
AUDIO: Die 60er: Auschwitz vor Gericht (8/14) (42 Min)

"Von morgens bis abends nur Mord und Totschlag"

Staatsanwalt Gerhard Wiese in den 60er-Jahren. © privat
Gerhard Wiese war der jüngste der Staatsanwälte im Frankfurter Auschwitz-Prozess, der am 20. Dezember 1963 eröffnet wurde.

Von einem ehemaligen Auschwitz-Häftling hatte der hessische Generalanwalt Fritz Bauer Unterlagen mit den Namen von Wachmännern erhalten, die Menschen auf der Flucht erschossen hatten. Dazu kam Material, das der spätere Mitbegründer des Auschwitz-Komitees Hermann Langbein schon seit Kriegsende gesammelt hatte. Das wurde zum Ausgangspunkt für die staatsanwaltlichen Ermittlungen, die schließlich zur Anklage von 22 Männern führten, die in verschiedenen Funktionen im Konzentrationslager Auschwitz gearbeitet hatten.

Gerhard Wiese bekam als Staatsanwalt zwei SS-Männer zugeteilt, deren Anklageschrift er formulieren musste: Oswald Kaduk und Wilhelm Boger. "In den ersten Tagen von morgens bis abends nur Mord und Totschlag", erinnert er sich an die Zeugenaussagen, die er durcharbeiten musste. "Also ich war froh, wenn ich rauskam und mit der Straßenbahn nach Hause fahren konnte, umgeben von normalen Menschen, die sich normal verhielten."

Grausamkeiten und Folterinstumente

Zeichnung der sogenannten Boger-Schaukel, einem Folterinstrument der politischen Abteilung des Lagers Auschwitz - die Zeichnung wurde für den 1963 begonnenen "Auschwitz-Prozess" in Frankfurt angefertigt. © dpa - Bildarchiv
Eine Zeichnung der sogenannten Boger-Schaukel veranschaulicht die Brutalität des Folterinstruments.

Kaduk und Boger gehörten zu denen, denen vielfache Grausamkeiten in Auschwitz vorgeworfen wurden. "Der hat bei kleinsten Vergehen zugeschlagen, getreten und das zog sich durch seine ganze Tätigkeit in Auschwitz", sagt Wiese über Oswald Kaduk. Nach Wilhelm Boger wurde sogar eine spezielle Foltermethode benannt, die "Boger-Schaukel". Die Brutalität wird selbst in der nüchternen Schilderung von Staatsanwalt Wiese deutlich: "Das ist eine Stange, und der Körper wurde rüber gelegt und weiter geschlagen. Bis der Mann eben tot war oder keinen Mucks mehr von sich gab."

Angeklagte wollen sich an nichts erinnern können

Rund die Hälfte der 360 Zeugen im Prozess waren ehemalige KZ-Häftlinge, die schilderten, was sie erleiden mussten. Oder was sie gesehen hatten. Die Angeklagten zogen sich meist darauf zurück, dass sie sich nicht erinnern konnten. Sie konnten nicht leugnen, dass sie in Auschwitz Dienst getan hatten, aber sie behaupteten, sie hätten sich nichts zuschulden kommen lassen. Das galt nicht nur für die SS-Wachmänner, sondern genauso für die Schreibtischtäter in der Verwaltung oder die Ärzte, die an der Rampe von Auschwitz entschieden, wer in die Gaskammer geschickt wurde. Etwa der Lagerarzt Josef Mengele, dessen menschenverachtende Experimente mit Häftlingen erst durch die verschiedenen Prozesse um die NS-Verbrechen in den 60er-Jahren einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden.

Ortstermin in Auschwitz: Konnte es so gewesen sein?

Eine Gruppe des Frankfurter Schwurgerichts und zahlreiche Journalisten besichtigen im Rahmen des 1963 eröffneten Auschwitzprozesses am 14. Dezember 1964 den ehemals elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun im Lager Auschwitz-Birkenau. © picture-alliance / dpa | CAF
Am 14. Dezember 1964 fand auf dem Gelände des ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau die erste Ortsbesichtigung im Rahmen des Auschwitzprozesses statt.

Bei einem Ortstermin in Auschwitz wurden die Zeugenaussagen überprüft. "Konnte er das sehen? Konnte er das hören? Sichtproben haben das bestätigt, Hörproben haben das bestätigt", berichtet Wiese. Dabei seien auch die Anwälte, die den Ortstermin zunächst wie einen Betriebsausflug angesehen hatten, ruhiger und nachdenklicher geworden. "Ist schon beeindruckend, geht ans Innere. Das geht gar nicht anders, kann gar nicht ausbleiben", beschreibt Wiese seine eigene Reaktion.

Auch die Öffentlichkeit reagierte auf den Prozess. Als Generalstaatsanwalt Fritz Bauer die Ermittlungen eingeleitet hatte, wollte die Mehrheit der Deutschen von der NS-Vergangenheit am liebsten nichts mehr wissen. Jetzt wurde die Debatte über die Verjährung von NS-Verbrechen neu geführt, und die Verjährungsfrist, die 1965 ausgelaufen wäre, zunächst hinausgeschoben. Ende der 70er-Jahre wurde die Verjährungsfrist für Mord schließlich aufgehoben.

Auschwitz-Prozess öffnet Jugendlichen die Augen

Großes Interesse fand der Prozess außerdem bei den jungen Menschen. Jeden Tag besuchten Schulklassen den Prozess. Und zwar unabhängig davon, so Staatsanwalt Wiese, ob ein interessanter Zeuge aussagte oder nur Dokumente verlesen wurden. Viele Jugendliche erfuhren da erstmals Dinge, über die ihre Eltern und Großeltern nie gesprochen hatten. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen im Nationalsozialismus wurde dann ein wichtiges Merkmal der Studentenbewegung in der Bundesrepublik.

19 Freiheitsstrafen - und Enttäuschung über Freisprüche

Gerhard Wiese war einer der drei Staatsanwälte im Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963. © NDR Foto: Katharina Kaufmann
Um alle 22 Angeklagte verurteilen zu können, hätten die Beweise nicht gereicht, so der ehemalige Ankläger Gerhard Wiese.

Am 20. August 1965 endete der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Sechs Angeklagte wurden zu lebenslangen Zuchthausstrafen verurteilt, die anderen zu unterschiedlich langen Freiheitsstrafen, drei wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. "Wir haben natürlich gehofft, dass es für alle ausreicht", sagt Wiese. Aber die Beweise hätten eben nicht gereicht.

Nicht nur Gerhard Wiese war enttäuscht über die Freisprüche. Aber was der Prozess jenseits der einzelnen Schuldsprüche erreicht hatte, war, dass die furchtbaren Tatsachen von Auschwitz nun nicht mehr geleugnet werden konnten. Schilderungen von Opfern hatte es auch vorher gegeben, aber: "Man konnte sagen: 'Die übertreiben.' Und da jeder Bericht über Auschwitz übertrieben klingt, konnte man das leicht sagen", so der Auschwitz-Überlebende Hermann Langbein. Das sei nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess anders gewesen: "Was jetzt bestehen bleibt in diesem Prozess, das ist zweifellos nur ein Teil der Wahrheit, aber das ist Wahrheit."

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