1985 kommt das Aus für die Kieler Straßenbahn
Es war wie die Verabschiedung eines Popstars: Umringt von einer großen Menschenmenge fuhr am 4. Mai 1985 die letzte Kieler Straßenbahn zur Endstation ins Depot. Noch heute trauern ihr viele nach.
Bei der Eröffnung 1881 wurde die Kieler Straßenbahn noch von Pferden gezogen. Die Elektrifizierung erfolgte erst 15 Jahre später. Die Strecke vom Hauptbahnhof entlang der Holtenauer Straße bis zum Belvedere war die erste Linie mit modernem Antrieb. Doch sie war mit einer Spurweite von 1.100 Millimetern gebaut: Ein Abstand, der in Deutschland nur noch in Lübeck und Braunschweig Verwendung fand, und der oft als Hindernis für mögliche Modernisierungen genannt wurde.
Es gab bis zu neun Linien
Die vom Ostufer bis zum Westufer verkehrenden creme-farbene Bahnen prägten mit ihrem typischen Schunkeln und ihren quietschenden Geräuschen das Stadtbild Kiels. In Spitzenzeiten gab es bis zu neun Linien, die von 150 Trieb- und Beiwagen befahren wurden. Am Ende wurden sie Opfer von Sparplänen und der modernen Omnibus-Bewegung.
Bücher, Anekdoten, Stammtische und Freundeskreise rund um die Kieler Straßenbahn haben sich bis in die heutigen Tage gehalten. Noch immer wird der Abschied von der nostalgischen Bahn und ihrer letzten Linie, der "4", bedauert.
"Eine Ära ging zu Ende"
Der letzte Tag der Kieler Straßenbahn ist der 4. Mai 1985, ein Sonnabend. Straßenbahnfahrer Uwe Ernst ging bedrückt zur Arbeit an diesem Tag. Der damals 29-jährige Kieler hatte die letzte Frühschicht. Um 4.30 Uhr stieg er ein letztes Mal in die cremefarbene Bahn der Linie 4 - und fuhr die 11,4 Kilometer lange Strecke zwischen den Kieler Stadtteilen Wellingdorf und der Wik hin und her. "Da ging eine Ära zu Ende. Das hat mich schon mitgenommen - und es war Wehmut dabei", erzählt Ernst dem NDR im Jahr 2015. In der Frühschicht war der Straßenbahnfahrer noch pünktlich unterwegs, da war noch nicht so viel los - aber ab Mittag kamen dann Tausende Kieler zum Tschüssagen. Alle wollten ein letztes Mal Straßenbahn fahren, Erinnerungsfotos machen.
Zum Abschied: Trauerflor in Kiel
Mit Kränzen und Blumen nahmen die Kieler Abschied von ihrer Straßenbahn. "Man merkte richtig, dass den Kielern die Bahn fehlen wird. Dass die davon auch nicht begeistert waren, dass nun wirklich Schluss sein sollte - oder musste", erinnert sich damals der gelernte Autoschlosser Uwe Ernst, der fünf Jahre lang die Straßenbahn durch die Stadt gefahren hat. "Es hat mir immer sehr viel Spaß gemacht. Man brauchte dafür Verständnis. Aber es war eine feine Sache: Es war schöne Luft darin, es waren immer die gleichen Fahrgäste - ich kannte sie alle."
Opfer von Sparplänen
1977 hatte die Kieler Ratsversammlung im Generalverkehrsplan (GVP) das Schicksal der Straßenbahn besiegelt. Der GVP basierte auf jahrelangen Untersuchungen: Mehrere Gutachten hatten die überfälligen Investitionen für die Fahrwege der verbliebenen Linie 4 auf 66 bis 118 Millionen D-Mark geschätzt. Die Folge von Sparplänen in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt: die komplette Umstellung des Öffentlichen Nahverkehrs auf Busse. Der Beschluss sorgte für Diskussionen - auch noch viele Jahre später.
"Im Schrank klirrten die Tassen und die Teller"
Der leidenschaftliche Straßenbahn-Sammler Dieter Boldt schimpft 2015: "Die haben die Bahn verkommen lassen - von den Oberleitungen angefangen und dann bis hin zu allem, was Bahn und Gleise betraf. Die haben alles nur noch notdürftig gemacht." Häufig genannt als Hindernis für mögliche Modernisierung wurde die ungewöhnliche Spurweite. Die Kieler Schmalspurbahn war mit einer Spurweite von 1.100 Millimetern ein schon damals auslaufendes Modell.
Dieter Boldt hat sein Leben lang direkt neben der Strecke der Linie 4 gewohnt - in der Holtenauer Straße in der Wik. "Ich hatte die Haltestelle direkt vor der Tür. Und die fuhren so scharf an, dass die Räder durchdrehten. Bei Frost rutschten die Räder auf den Schienen und dann streuten die auch noch Sand darauf - das ratterte, und bei mir im Schrank klirrten die Tassen und die Teller", erinnert sich der Rentner 2015 und lacht.
Um 20.20 Uhr war Schluss
Die Straßenbahn quietschte und ächzte mit ihrem typischen Schaukeln durch Kiels Straßen. So auch an ihrem letzten Tag. Um 20.20 Uhr war Schluss. Die Linie 4 fuhr ein letztes Mal ins Depot Gaarden ein - auf den Betriebshof in der Werftstraße. "Der ganze Hof war voll. Es war fast kein Durchkommen. Man musste sehen, dass die Wagen überhaupt reinkamen. Die hatten lange Verspätung. Da war ein Tohuwabohu hier auf dem Hof", erinnert sich Uwe Ernst, der später im Planbüro der Kieler Verkehrsgesellschaft sitzt und Fahrpläne schreibt. Viele Kieler wollten sehen, wo die Wagen hingefahren werden. Auch Dieter Boldt war dabei: "Es war bewegend, als die geschmückten Bahnen ins Depot einfuhren."
Ein Teil der Kieler Straßenbahn lebt weiter
Nach dem Aus der Kieler Straßenbahn sollten die Teile, die nicht verkauft worden waren, auf dem Kieler Ostufer verschrottet werden. Dieter Boldt sicherte sich ein Teil des Straßenbahnwaggons mit der Nummer 71 und restaurierte ihn: In Originalfarbe lackiert, mit Plexiglasfenstern versehen und von einem Trafohäuschen mit Strom versorgt stand Boldts Museumsbahn viele Jahre in seinem kleinen Garten in der Holtenauer Straße in der Wik.
