Stand: 16.08.2019 06:05 Uhr

Über Chancen und Risiken der Telemedizin

von Birgit Augustin
Hermann Dittrich geht in das Care-Center des Gesundheitsprojektes "HerzEffekt" © picture-alliance/dpa Foto: Bernd Wüstneck
In Mecklenburg-Vorpommern läuft das Telemedizin-Projekt "HerzEffekt MV".

Ärztemangel, Wartezeiten und lange Anfahrtswege entwickeln sich bei der Versorgung von Patienten zum Problem - besonders bei chronisch Kranken in ländlichen Regionen. Oft sehen die Kranken zu selten einen Arzt oder erst dann, wenn sie als Notfall ins Krankenhaus müssen. Je weiter die Menschen von städtischen Zentren entfernt wohnen, desto größer ist das Problem. Große Hoffnungen liegen in der Telemedizin. Mittlerweile fördert der Gemeinsame Bundesausschuss von Krankenkassen, Ärzten und Krankenhäusern mehr als Hundert Projekte, um herauszufinden, wie gesetzlich Versicherte besser versorgt werden können: von der Zusammenarbeit von Haus- mit Hautärzten, über Telesprechstunden bis zur Versorgung von Herzerkrankten, wie beim Projekt "HerzEffekt MV".

Tägliche Routine für Herz-Patienten

Wiegen, Blutdruck und Puls messen - so beginnt jeder Morgen für den herzkranken Hartmut Wenig. Er ist einer von derzeit rund 1.000 Patienten, die an dem Telemedizin-Projekt der Universitätsklinik Rostock "HerzEffekt MV" teilnehmen. Die Forscher wollen herausfinden, ob sich eine telemedizinische Betreuung positiv auf die Gesundheit herzkranker Menschen auswirkt. Über ein Tablet gelangen die Gesundheitsdaten des 65-Jährigen jeden Tag nach ein paar Klicks zum "Care-Center" an der Uniklinik Rostock.

Mediziner betrachten Bildschirme © dpa-Bildfunk Foto: Bernd Wüstneck
Im Care-Center werden die eingegangenen Daten der Patienten besprochen.

Anlass für das Projekt ist die im Vergleich mit anderen Bundesländern höhere Sterblichkeit in Mecklenburg-Vorpommern. Die Hauptursache sind Herzerkrankungen. Für Hermann Dittrich, Facharzt im Rostocker Care-Center, ist ein Problem bei der Versorgung herzkranker Patienten, dass Betroffene bei Krankheitsverschlechterungen oft nicht sofort reagieren: "Wenn die Beine dicker werden, denken sie: 'Ach, das wird schon wieder werden. Ist von alleine gekommen, wird auch von alleine wieder gehen'. Und sie gehen nicht zum Arzt. Ist ja auch weit weg und umständlich. Der Schwager kann nicht, hat gerade kein Auto. Und, und, und. Tausend Gründe."

Solche Entwicklungen will "HerzEffekt MV" abfangen. Durch die tägliche Erhebung von Blutdruck, Puls und Gewicht können Hermann Dittrich und seine Kollegen eingreifen, bevor es zu einer massiven Verschlechterung kommt. Wenn bei Hartmut Wenig ein Wert auffällig ist, meldet sich das Care-Center bei ihm. Hartmut Wenig hat das Gefühl, es werde sich um ihn gekümmert. "Da wird angerufen, mittels Tablet bekommt man eine SMS. Das ist schön."

Bundesweite Telemedizin-Projekte

Beispiele für Telemedizin-Projekte

"Telemedizin im ländlichen Raum"

In Schleswig-Holstein beginnt das Projekt "Telemedizin im ländlichen Raum" zusammen mit der Techniker Krankenkasse. extern

"DocDirekt"

In Baden-Württemberg hat die Kassenärztliche Vereinigung bereits das Telemedizin-Projekt "DocDirekt" gestartet. extern

Facharztmangel gibt es auch im wohlhabenden Baden-Württemberg. An der Universität Tübingen läuft das Projekt "TeleDerm", bei dem Hausärzte mit Dermatologen zusammenarbeiten. Aufnahmen von verdächtigen Hautstellen, die in einer Hausarztpraxis gemacht wurden, gehen über eine geschützte Datenleitung zu einem Dermatologen nach Tübingen. Der hat 48 Stunden Zeit, eine Diagnose zu stellen. Bei manchen Fällen, sagt Matthias Möhrle, einer der teilnehmenden Hautärzte, spare die Ferndiagnose wertvolle Zeit.

Was in Deutschland fehlt, ist ein Masterplan für die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Überall im Land gibt es Projekte, die verschiedene telemedizinische Ansätze durchspielen - zeitlich und regional begrenzt, leider aber nichts aus einem Guss. Vor wenigen Wochen hat das Bundeskabinett nun ein neues Gesetz "für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation" verabschiedet. Es soll Ärzten künftig ermöglichen, Gesundheits-Apps auf Rezept zu verschreiben.

Auch die Videosprechstunde soll Einzug in den medizinischen Alltag finden. Lange Zeit durften Ärzte nur Bestands-Patienten am Telefon oder per Video-Chat beraten. Seit vergangenem Jahr ist ihnen das auch bei Patienten, die sie noch nicht kennen, erlaubt. Aber die meisten Landesärztekammern setzen entsprechende Regelungen erst nach und nach um.

Telemedizin für Selbstzahler und Privatpatienten

Während die Telemedizin in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckt, ist sie in anderen Ländern - etwa der Schweiz oder Großbritannien - schon längst Realität. Private Anbieter von dort drängen auf den hiesigen Markt. Auch deutsche Start-ups werben um Kundschaft. Wer selbst bezahlt, kann schon heute ärztliche Beratung per Videochat einholen. Eine Reihe von privaten Krankenkassen erstatten die anfallenden Kosten: Nach Gebührenordnung 37,54 Euro für das Arztgespräch inklusive Arztbrief, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und Rezept. Nachts sowie an Sonn- oder Feiertagen fallen Zuschläge an.

Offenbar ein lukratives Geschäft. Auch private Krankenhausbetreiber wie die Rhön-Kliniken versuchen sich - zusammen mit dem Schweizer Telemedizinanbieter MedGate - auf dem wachsenden Markt zu etablieren. Was Kassenärzte künftig für ihren Einsatz an Laptop und Smartphone von den Krankenkassen erstattet bekommen sollen, ist dagegen noch nicht geregelt.

Probleme bei der "HerzEffekt MV"-Studie

In der Steuerungszentrale der "HerzEffekt MV"-Studie herrscht mittlerweile eine nervöse Grundstimmung. 3.000 herzkranke Patienten wollte man bis Ende 2020 in die Studie eingeschlossen haben, doch es werden wohl kaum mehr als 1.000 werden. Die Projektmanager ringen um die weitere Finanzierung. Hermann Dittrich, Facharzt im Care-Center, erklärt: "Das Projekt wird nach heutigem Stand zu Ende geführt. Und es ist gelungen, auch mit einer etwas geringeren Zahl wissenschaftlich auswertbare und valide Daten zu bekommen." Dass "HerzEffekt MV" nur so zögerlich angenommen werde, beruhe auf einem Missverständnis - viele niedergelassene Ärzte hätten das am Universitätsklinikum angesiedelte Projekt als Konkurrenz wahrgenommen, dass ihnen die Patienten abspenstig machen wolle. Das sei aber gar nicht der Fall.

Digitalisierung im Arztalltag

Einer, der das Projekt von Anfang an mit Wohlwollen verfolgt hat, ist der Hausarzt Marco Krüger aus Gnoien, einer 3.000-Seelen-Gemeinde im Landkreis Rostock in der Mecklenburgischen Schweiz. In seiner Praxis werden sämtliche Patientenakten bereits papierlos geführt. Seine Patienten bekommen von ihm eine App auf das Handy, mit der sie zum Beispiel ihren Blutdruck messen - und die Daten dann direkt in die Praxis schicken können. Digitalisierung, findet der 37-Jährige, biete enorme Möglichkeiten, gerade in der Betreuung chronisch Kranker: "Das sind ja hier die Anfänge, dass es dem Patienten unterm Strich besser geht und er besser versorgt wird, gerade im ländlichen Bereich." Gesundheits-Apps, digitale Patientenakten, Videosprechstunden - all das, glaubt Marco Krüger, mache vielen seiner jüngeren Kollegen Spaß - und sorge dafür, dass der Arztberuf auf dem Land wieder attraktiver werde.

Den großen Visionen stehen manchmal allerdings ganz praktische Probleme im Weg. Schnelles, flächendeckendes Internet zur Übertragung von Gesundheitsdaten – das ist in Mecklenburg-Vorpommern nicht überall gegeben. In vielen anderen Bundesländern sieht es allerdings auch nicht besser aus. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass viele Menschen von den Möglichkeiten der Digitalisierung profitieren könnten. Gerade in unterversorgten, ländlichen Regionen. Und: Telemedizin sollte für alle zugänglich sein - nicht nur für gutverdienende Privatversicherte.

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NDR Info | Forum am Sonntag | 18.08.2019 | 06:05 Uhr

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