Szenario C wie Chaos? Krisen-Konzept in der Kritik
Keine Präsenzpflicht für Grundschüler - aber die Schulen in Niedersachsen bleiben offen. Die Regierung sucht die Balance zwischen Bildung und Infektionsschutz. Kritiker sprechen von Corona-Chaos.
"'Schule besuchen auf eigene Gefahr - Eltern haften für ihre Kinder!" So zugespitzt formulierte der FDP-Bildungsexperte Björn Försterling die Kritik seiner Fraktion an den Corona-Regelungen von Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD). Die Regierung schaffe es nicht, klare Regelungen zu treffen, sondern überlasse die Entscheidung den Eltern. Das sei "schlicht fahrlässig", sagte Försterling.
Grüne fordern bessere Konzepte
Die Grünen forderten die Landesregierung auf, das Hin und Her schnell zu beenden und sich am bundesweiten Vorgehen zu orientieren. Grünen-Fraktionschefin Julia Willie Hamburg forderte bessere Lüftungskonzepte, um Schulschließungen in Zukunft vermeiden zu können.
Verbände sind unzufrieden
Mehrere Lehrerverbände sowie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zeigten sich ebenfalls nicht einverstanden mit der Vorgehensweise der Landesregierung. Die GEW beklagte ein "Kuddelmuddel" an den Schulen. Der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte wies auf die gestiegene Belastung der Lehrkräfte durch die Planungsunsicherheit hin. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) forderte verlässliche Konzepte statt eines wöchentlichen Szenarienwechsels. Dies führe zu einem unnötigen Organisationschaos an den Schulen. "Mehr Chaos geht wirklich nicht", sagte der VBE-Landeschef Franz-Josef Meyer.
Regierung verteidigt das Konzept
Am Mittwoch hatten Kultusminister Grant Hendrik Tonne und Ministerpräsident Stephan Weil (beide SPD) den niedersächsischen Weg in einer gemeinsamen Pressekonferenz verteidigt. Gerade für junge Schüler sei das Lernen in der Schule besonders wichtig, ebenso der Kontakt zu Gleichaltrigen, sagte Tonne. Die Erwartung sei, dass sich die Klassen erheblich leeren, so Weil. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Länderchefs hatten sich am Dienstag nach intensiver Diskussion darauf geeinigt, Schulen im Grundsatz geschlossen zu lassen und diesen Bereich "restriktiv" handzuhaben. Sozialdemokrat Weil sieht die neue Regelung durch den Bund-Länder-Kompromiss gedeckt.
Eltern sollen sich für ein Modell entscheiden
Die Eltern wüssten selbst am besten, was gut für ihre Kinder ist, sagte Tonne. Bis Freitag sollen sie sich fest für eine Variante entscheiden, damit die Schulen planen können. Dafür soll das Ausfüllen eines Formblatts genügen, das bereits an die Schulen verschickt worden sei. Die Entscheidung gilt laut Kultusminister Tonne erst einmal bis Mitte Februar - bis dahin gilt die am Dienstag beschlossene Lockdown-Verlängerung. Schüler in Abschlussklassen können sich ebenfalls vom Präsenzunterricht befreien lassen, wie das Ministerium mitteilte.
Stadt Celle verteilt FFP2-Masken an Grundschulen
Celle hat unterdessen für alle Grundschülerinnen und Grundschüler zum Wiederbeginn des Unterrichts FFP2-Masken bestellt. Die Zahl sei so ausgelegt, dass jedes Kind sofort drei Masken erhält, die tageweise wechselnd getragen werden können, teilte die Stadt am Mittwoch mit. Wie die Masken genau genutzt würden, sei den Schulen überlassen. "Momentan schwingt immer und überall die Furcht vor Infektionen mit", sagte Oberbürgermeister Jörg Nigge (CDU). Kinder bekämen natürlich mit, wenn Schulen als Übertragungsorte ausgemacht werden. "Da entstehen Ängste", sagte der CDU-Politiker. Die Lehrer hätten bereits FFP2-Masken erhalten.
Homeoffice-Pflicht - sonst kleinere Belegung und FFP2-Masken
Mehr Schutz vor Infektionen bei der Arbeit war am Dienstag auch ein Kernthema der Bund-Länder-Runde. Die Verantwortlichen einigten sich relativ schnell darauf, dass Arbeitgeber ihren Mitarbeitern das Homeoffice ermöglichen müssen. Eine entsprechende Regelung soll laut Bundesarbeitsministerium am Mittwoch kommender Woche in Kraft treten. Wo Arbeit weiterhin in Präsenz erforderlich sei, müssen demnach für Arbeitsbereiche auf engem Raum die Belegung reduziert oder FFP2-Masken zur Verfügung gestellt werden. Weil begrüßte die Entscheidung. Er bat die Verantwortlichen in den niedersächsischen Unternehmen und anderen Institutionen, für diejenigen Mitarbeiter, die nicht im Homeoffice arbeiten können, die Arbeits- oder Dienstzeiten noch stärker als bislang zu flexibilisieren. "Wir werden das auch in der Landesverwaltung tun", sagte Weil. "Es muss uns gemeinsam gelingen, die mit vollen Bussen und Bahnen verbundenen Infektionsgefahren drastisch zu reduzieren."
Medizinische Masken werden zum Standard
Um besonders im öffentlichen Nahverkehr und in Supermärkten die Infektionsgefahr zu verringern, einigten sich Länderchefs und Kanzlerin auf eine Verschärfung der Maskenpflicht. In beiden Bereichen werden medizinische Masken - dazu gehören sogenannte OP-Masken oder FFP2-Masken - verpflichtend. Sogenannte Alltagsmasken aus Stoff genügen dann nicht mehr. Die niedersächsische Staatskanzlei hatte vor dem Corona-Gipfel Bedenken an einer alleinigen FFP2-Masken-Pflicht geäußert, weil dann sichergestellt werden müsste, dass genügend kostenlose Exemplare verfügbar sind. Sogenannte OP-Masken sind dagegen wesentlich günstiger.
Pfleger in Heimen müssen FFP2-Masken tragen
Für das Personal in Alten- und Pflegeeinrichtungen wird beim Kontakt mit Bewohnerinnen und Bewohnern eine FFP2-Maskenpflicht vorgeschrieben, wie die Staatskanzlei mitteilte. Außerdem seien bereits in der jetzigen niedersächsischen Verordnung verpflichtende Testungen für alle Bediensteten mehrmals pro Woche angeordnet. Auch Angehörige und Freunde der Bewohner müssen schon jetzt ab einer 7-Tages-Inzidenz von mehr als 50 Neuinfektionen bei jedem Besuch einen Schnelltest durchführen lassen, hieß es weiter.
Allgemeine Ausgangsbeschränkungen kommen nicht
Die vor dem Gipfel von Kanzlerin Merkel ins Gespräch gebrachten landesweiten Ausgangsbeschränkungen auch außerhalb von Corona-Hotspots wurden nicht beschlossen. Nach Informationen aus Teilnehmerkreisen verständigte man sich lediglich auf einen Passus, wonach Länder und Landkreise in Regionen mit hohen Infektionszahlen zusätzliche Maßnahmen verhängen können. Das ist im Sinne der Landesregierung. Diese hält eine Ausgangssperre nur in Städten und Landkreisen mit einer Inzidenz von mehr als 200 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern und Woche für sinnvoll.
Weil hält neue Beschlüsse für ausreichend
Ministerpräsident Weil geht davon aus, dass die von Bund und Ländern beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus genügen. "Nach allem, was wir sehen, ja", sagte er in der ARD auf eine entsprechende Frage. Es gebe eine "stetig reduzierte Zahl der Infektionen". Allerdings seien die Mutationen des Coronavirus eine "große Unbekannte".
Die neue Corona-Verordnung des Landes soll Weil zufolge Anfang kommender Woche in Kraft treten.
