Stand: 16.09.2014 07:50 Uhr

Vertuscht die Stasi Dirks Entführung?

von Marie-Caroline Chlebosch und Björn Siebke

Für Heidi Stein ist es das Schlimmste, was sie je erlebt hat. Vor 35 Jahren verschwindet ihr Sohn Dirk in der DDR spurlos bei einem Familienausflug. Dirk ist damals drei Jahre alt. Bis heute ist unklar, was dem Kind passiert ist. Vieles spricht für eine Entführung. Im März 1979 wollen Heidi Stein, ihr Mann und die Kinder Silvia und Dirk eine Gipshöhle besuchen. Dort sieht sie Dirk das letzte Mal.

"Wo ist Dirk?"

Als die Familie an ihrem Ausflugsort ankommt, hat die Höhle bei Sangerhausen im heutigen Sachsen-Anhalt noch geschlossen. Die Eltern nutzen die Zeit, um im Auto etwas umzuräumen. Sie lassen die Kinder an einem zugefrorenen Bach spielen - in Sichtweite. Nach zehn Minuten will Heidi Stein Dirk und Silvia holen. "Da kommt mir meine Tochter Silvia entgegen. Und ich frage: 'Wo ist Dirk?' Silvia blickt sich um, als wolle sie sagen: 'Warum fragst du, Dirk steht doch direkt hinter mir.' Und seitdem suchen wir Dirk", sagt Heidi Stein, die inzwischen in Gifhorn lebt. Ihre Stimme zittert.

Volkspolizei: Dirk ist ertrunken

Die Ortsfeuerwehr stellt die Suche noch in derselben Woche ein. Im März 1979 wird der Fall Dirk zu den Akten gelegt. Die Volkspolizei Sangerhausen geht von einem Unfall aus. Der Junge sei im Bach ertrunken, heißt es in den Ermittlungsakten. Bereits hier kommen Heidi Stein erste Zweifel an den Ermittlungen. Sie stellt Fragen, die kein Beamter beantworten kann. Wie hätte ein dreijähriges Kind in einem bis zum Grund gefrorenen Bach ertrinken können? Bei der Suche am Unglücksort standen doch die Feuerwehrleute auf dem Bach, stocherten mit Eisenstangen ins Eis, ohne einzubrechen. Warum hat man nie einen Leichnam gefunden? Oder irgendein Kleidungsstück?

Was wusste die Stasi?

Und es gibt noch mehr rätselhafte Indizien. Heidi Stein erinnert sich an ein Auto auf dem Parkplatz. Blau, russisches Fabrikat, Marke Moskwitsch. Ein Auto, das sich nur wenige in der DDR leisten konnten und das vorrangig von sowjetischen Militärs oder Stasi-Mitarbeitern gefahren wurde. Die Insassen: ein Pärchen. Als Dirk verschwunden ist, fehlt auch von dem Moskwitsch jede Spur. Bis heute. Aus ihrer Stasi-Akte erfährt Heidi Stein nach der Wende: Die Spur des blauen Moskwitsch wurde von der Volkspolizei nicht verfolgt. Das Paar wurde nie befragt. Auf Anweisung der Stasi, wie es scheint. Denn in den Akten findet sich ein Hinweis der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit aus Leipzig. Darin heißt es zu den Ermittlungen um das blaue Auto: "Bei möglicher Identifizierung sind keinerlei Maßnahmen einzuleiten. Fehlmeldung ist zu geben." Heidi Stein erfährt aus ihrer Stasi-Akte auch, dass sich ein Mitarbeiter der Staatssicherheit aus Halle auf den Weg zum Unglücksort macht, kurz nachdem die Feuerwehr alarmiert wurde. Was will die Stasi dort?

"Ich fühlte mich wie der Staatsfeind Nummer 1"

Die Stasi-Akte umfasst knapp 1.300 Seiten. Aber warum sammelte die Behörde überhaupt so umfangreiche Informationen über Heidi Stein? Sie war doch nur eine Mutter auf der Suche nach ihrem Kind. Nicht für das SED-Regime, sagt Stein. Denn auf ihrer verzweifelten Suche wendet sie sich mit Briefen an ihre Cousine im Westen, in Salzgitter. Stein bittet sie darum, Dirks Verschwinden und ihren Hilfeschrei nach Aufklärung an westdeutsche Zeitungen und Hilfsorganisationen wie Amnesty International weiterzuleiten. Für die Herrschenden des DDR-Regimes ist das offenbar ein verbrecherischer Akt. Die Folge: Stein kommt ins Gefängnis. Zunächst für sechs Monate in U-Haft in Dresden, dann für ein Jahr ins berüchtigte Stasi-Gefängnis Bautzen II. "Ich fühlte mich wie der Staatsfeind Nummer 1", sagt sie heute. Was sie in Haft erlebt, hat sich in ihre Seele eingebrannt: "Es ist ein Einschnitt ins Leben. Am ersten Tag muss man sich entkleiden, total entkleiden. Das ist für eine Frau fürchterlich schlimm. Als ich dann in Hemd und Höschen da stand, sagten die: 'Das auch noch.' Das ist eine Peinlichkeit, die werde ich nie vergessen. Diese Ohnmacht spüre ich heute noch", so Stein. In der Untersuchungshaft beginnt auch die psychische Folter durch die Stasi, sagt sie. Einsamkeit, Schlafentzug, stundenlange Verhöre: "Natürlich habe ich am Anfang überhaupt nichts gesagt. Bis man mich erpresst hat, ich gesehen habe, dass da Briefe von meinen Kindern und meiner Mutter sind. Die bekam ich erst zu lesen, wenn ich Informationen gab. Wenn ich das sagte, was der Vernehmer wissen wollte. Das war Psychoterror", beschreibt Stein die Verhöre heute.

Psychotherapeut: Erpressung nur eine Methode der Stasi

Von Psychoterror wie ihn Stein in der Haft erlebt hat, hört der Psychotherapeut Karl-Heinz Bomberg oft. Er saß selbst drei Monate in Untersuchungshaft in Berlin-Pankow. Der Vorwurf: Staatsfeindliche Hetze. Bomberg schrieb damals kritische Lieder über das SED-Regime. Heute behandelt der Psychotherapeut mehr als 200 Stasi-Opfer. Viele davon haben Jahre in deren Gefängnissen verbracht. Sie leiden bis heute, sagt er. Vor allem unter den Verhören: "Die Stasi wollte in der Untersuchungshaft möglichst viele Geständnisse erzwingen, die den Betroffenen zu Fall bringen. Ihn unschädlich machen. Ihn zersetzen. Und in diesem Schmelztiegel der Untersuchungshaft hat die Staatssicherheit mit Verunsicherung gearbeitet, mit Erpressung." sagt Bomberg. "Das macht mit den Opfern, dass sie sich immer wehrloser, immer hilfloser fühlen." Die Hilflosigkeit halte oft bis heute an. Die meisten Stasi-Opfer seien zutiefst misstrauisch.

Polizei Gifhorn ermittelt im Fall Dirk

So auch Heidi Stein. Eine Überwachungskamera an ihrem Wohnhaus nahe Gifhorn gibt ihr ein wenig Sicherheit. Noch immer sucht sie nach Dirk - und ist dabei nicht mehr allein. Auch die Polizei Gifhorn hat die Ermittlungen aufgenommen. Die Beamten durchleuchten den Fall neu und versuchen die rätselhaften Indizien von damals zu prüfen. Und tatsächlich halten die Gifhorner Ermittler auch eine Entführung Dirks für möglich. Dafür spreche, "dass der Leichnam nicht aufgetaucht ist und auch kein Bekleidungsstück. Zudem gebe es eine Spur - der Mann und die Frau in einem Moskwitsch auf dem Parkplatz zum Zeitpunkt des Verschwindens - der damals nicht nachgegangen wurde", schreibt der zuständige Ermittler auf NDR Anfrage. Die Frage nach dem Einfluss der Stasi auf die damaligen Ermittlungen beantwortet der Ermittler so: Die Stasi habe "zeitnah darauf hingewirkt, dass das erste Ermittlungsergebnis, Tod durch Ertrinken, manifestiert wird". Die Ermittlungen dauern noch an, sie geben Stein jetzt Hoffnung: "Das ist das erste Mal, dass ich spüre, dass mir jemand im Fall Dirk hilft und die Sache kriminalistisch betreibt. Nicht so larifari unter Einfluss der Stasi. Ich kenne das Endergebnis nicht, aber ich weiß, es tut sich was." Heidi Stein sagt, sie wird nicht aufgeben. So lange nicht, bis sie Dirk gefunden hat.

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Hallo Niedersachsen | 16.09.2014 | 19:30 Uhr

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