Die Stunde null in Osnabrück: Aufräumen nach dem Krieg

Stand: 08.05.2025 05:00 Uhr

"Osnabrück war ein Trümmerhaufen": Die Menschen packen an, um die Schuttberge zu beseitigen. Der von den Briten eingesetzte erste Oberbürgermeister legt die intellektuellen Grundlagen für die Demokratie.

von Josephine Lütke

"Die Häuser am Markt waren alle ausgebrannt", sagt Gerda Fricke. "Überall lag Schutt." Zum Kriegsende am 8. Mai 1945 war sie acht Jahre alt. Bis heute erinnert sie sich an dieses Bild der zertrümmerten Stadt. 90 Prozent der Innenstadt Osnabrücks waren zerstört. Das Rathaus, in dem einst der Westfälische Frieden geschlossen wurde, hatte einen Bomben-Volltreffer abbekommen. Das Dach war abgerissen, das Symbol der Stadt zerstört. Es gab so viel Schutt, dass die Masse gereicht hätte, die gesamte Innenstadt auf einer Fläche von rund 120 Hektar einen Meter hoch mit den Trümmern zu bedecken.

Osnabrück wächst rasend schnell

Osnabrück hatte zu dieser Zeit rund 60.000 Einwohner, darunter auch ehemalige Zwangsarbeiter. Und die Einwohnerzahl stieg rasant. Schon einen Monat später, im Mai 1945, waren es mehr als 77.500 und Ende 1946 knapp 90.000. Darunter Ausländer, Geflüchtete, Vertriebene. Die Hälfte der Wohnungen war allerdings noch immer kaputt, Wohnraum daher knapp.

Eine Schuttbahn zum Aufräumen

Gerda Fricke, Zeitzeugin des Zweiten Weltkriegs, sitzt in ihrem Wohnzimmer und schaut in die Kamera. © NDR Foto: Josephine Lütke
Gerda Fricke erinnert sich noch genau an die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - damals war sie Schülerin.

Um den Schutt möglichst schnell aus der Stadt zu transportieren, wurden extra 17 Kilometer Gleise verlegt. Eine Schuttbahn brachte die Trümmer an den Stadtrand. Dort wurden sie in Tonkuhlen gekippt. Gerda Fricke musste jeden Tag eine weite Strecke quer durch die zerstörte Stadt zur Schule laufen. Denn neben den rund 6.000 komplett zerstörten Wohnhäusern, waren auch 13 Schulen komplett weg und elf schwer beschädigt. Die Loren der Schuttbahn hat Gerda Fricke bis heute vor Augen. "Am liebsten wären wir hinten draufgesprungen, um schneller von der Schule nach Hause zu kommen." Ihre Eltern aber hatten es verboten. "Die Loren entgleisten manchmal, und das war nicht ungefährlich", sagt Gerda Fricke.

Keine Chance mehr gegen die Briten

Soldaten der alliierten Streitkräfte am 09.04.1945 auf dem zerbombten Bahnhof von Osnabrück. Am 08.05.1945 endete mit der offiziellen Kapitulation Deutschlands der Zweite Weltkrieg in Europa. © picture-alliance/ dpa
Soldaten der Alliierten nehmen Osnabrück am 4. April 1945 ein.

Die britischen Streitkräfte, begleitet von Kanadiern, erreichten Osnabrück am 4. April 1945. Die Nazi-Größen der Stadt waren da längst geflohen. Deshalb gab es auch keinen Kampf mehr. Es fehlten die Befehlshaber. Außerdem war die Not in der zerstörten Stadt groß, eine Chance gegen die Briten gab es nicht mehr. Und so wurden die einstigen Feinde in der Folge zu Partnern beim Wiederaufbau. Für die Osnabrücker hieß es in den ersten Monaten nach Kriegsende: Nahrung finden, Heizmaterial, ein Dach über dem Kopf.

Missgunst, Neid und Rache

Deutsche Zivilisten plündern am Bahnhof von Osnabrück Heizmaterial (undatiert). Am 08.05.1045 endete mit der offiziellen Kapitulation Deutschlands der Zweite Weltkrieg in Europa. © picture-alliance/ dpa
Die Leute leiden, haben Hunger, brauchen Heizmaterial. Am Bahnhof kommt es zu Plünderungen.

"Es kam in dieser Zeit auch zu Aggressivität und Boshaftigkeit", sagt Sven Jürgensen, Leiter des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums in Osnabrück. So wurden beispielsweise Menschen, die kein Zuhause mehr hatten, in einem Kaufhaus eingesperrt und dieses dann angezündet. Sie hatten dort aus der Not heraus Kleidung stehlen wollen. Es waren britische Soldaten, die die Menschen retteten und wiederbelebten. Das belegen Bilder, die es von dieser Situation gibt. "Es war nicht plötzlich eine friedliche Stadt geworden", sagt Jürgensen. "Und natürlich haben auch die ehemaligen Zwangsarbeiter ihre früheren Peiniger nicht in den Arm genommen."

Die Stunde null der Demokratie

Und trotzdem gab es auch Mut und Tatkraft. Ein Pionier der Osnabrücker Demokratie war Adolf Kreft. Noch bevor es eine politische Infrastruktur gab, hatten ihn die Briten als ersten Oberbürgermeister eingesetzt. Mit seiner ersten Rede in einer Bürgerversammlung haber er die Stunde null der Demokratie geprägt, so Jürgensen. "Das Erstaunliche an dieser Rede ist, dass er nicht so sehr darauf setzte, die ganze Not zu erläutern, die ja allen sowieso klar war." Stattdessen sagt er, dass die Osnabrücker Demokraten werden müssten, wenn sie überleben wollten. Er setzte auf die Zukunft, die Kreativität der Osnabrücker. Außerdem grenzte er sich von den Nazis ab, sprach stattdessen von Kant, Schiller und Goethe. "Und mit diesen Geistesgrößen im Rücken versuchte er, seine Leute zu ermuntern und aufzufordern, die Stadt wieder aufzubauen", sagt Sven Jürgensen.

Jahrelanges Aufräumen

Und sie tun es. Die Osnabrücker packen an, räumen auf, meist per Hand. Gerda Fricke erinnert sich noch, dass besonders viele Frauen dabei geholfen haben. Ihre Tante habe sie da das erste Mal in einer Hose gesehen. "Das war ungewöhnlich. Denn Frauen trugen eigentlich immer längere Röcke und eine Schürze davor", sagt sie. Etwa ein Jahr nach Kriegsende sind die Straßen Osnabrücks vom Schutt befreit. Pünktlich zum 300. Jahrestag des Westfälischen Friedens 1948 ist das Rathaus wieder aufgebaut.

Altes Stadtbild wieder hergestellt

Eine Reihe historischer Stadthäuser am Marktplatz von Osnabrück. (03.08.2022) © picture alliance / Westend61 Foto: Wilfried Wirth
Die historischen Stadthäuser am Markt erfreuen auch heute die Menschen.

Und auch die berühmten bunten Häuser am Markt und die großen Kirchen wie zum Beispiel die Marienkirche werden wieder aufgebaut. In den 50er-Jahren sind die meisten Trümmer beseitigt aber noch bis in die 70er-Jahre gibt es sichtbare Spuren des Krieges in Osnabrück, wie zum Beispiel einige zerstörte Häuser.

Und auch heute werden die Osnabrücker alle paar Monate an diese Zeit erinnert. Denn regelmäßig werden Blindgänger gefunden, sie müssen von Spezialisten entschärft oder gesprengt werden. Und dafür müssen jedes Mal Tausende Menschen ihre Häuser verlassen.

Weitere Informationen
Ausschnitt der Europa-Karte vom 1. Mai 1945 aus dem "Atlas of the World Battle Fronts in Semimonthly Phases" des United States War Department, 1945, der die Gebietslage in zweiwöchigen Abständen dokumentiert. © This image is a work of a U.S. Army soldier or employee, taken or made as part of that person's official duties. As a work of the U.S. federal government, the image is in the public domain. Foto: United States War Department, General Staff 1945

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Osnabrück | 08.05.2025 | 15:00 Uhr

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