Wilfrid "Frida" Schulz: Der "Pate" von St. Pauli

Stand: 04.01.2023 12:10 Uhr

Ende der 60er steigt Wilfrid "Frida" Schulz zum Herrscher der Reeperbahn auf. Er scheffelt Geld mit Prostitution und Glücksspiel. 1982 verhaftet ihn eine Hamburger Spezialeinheit gegen das Organisierte Verbrechen - es ist das Ende des "Paten" von St. Pauli.

von Stefanie Grossmann

Das Hafenviertel unweit der Reeperbahn ist schon in den 1920er-Jahren ein eigenes Universum, es zieht Matrosen und Touristen aus aller Welt an. Prostitution und Glücksspiel boomen. Wilfrid Schulz, geboren 1929, wächst auf St. Pauli auf, dort betreiben seine Eltern eine Kneipe. Im Zweiten Weltkrieg wird die Lebensgrundlage der Familie zerstört. Schulz geht nach der Mittleren Reife von der Schule ab, verdingt sich anschließend im Hafen als Kistenschlepper und Bananenpacker. Später verdient er sein Geld als Kellner und Türsteher, bevor er sich in den 60ern im Rotlichtmilieu nach oben arbeitet.

Als "Pate" von St. Pauli wird er in den 80er-Jahren zum Gegenspieler der Fachdirektion 65 (FD65) - einer Spezialeinheit, die ab 1982 gegen die Organisierte Kriminalität auf dem Kiez kämpft. Die True-Crime-Dokumentation "Reeperbahn Spezialeinheit FD65" - als fünfteilige Serie in der ARD-Mediathek - blickt auf die Arbeit der Ermittler zurück und leuchtet dabei auch die Rolle von Schulz in Hamburgs Rotlichtmilieu aus.

Wilfrid Schulz: "Der kam nicht. Er erschien"

Der deutsche Unternehmer und Boxveranstalter Wilfrid Schulz, auch bekannt als "König von St. Pauli" oder "Pate", aufgenommen im Hamburg (undatierte Aufnahme). © picture alliance / Werner Baum Foto: Werner Baum
Ganove in Nadelstreifen: Wilfrid Schulz gilt in den 60ern als uneingeschränkter Herrscher auf dem Kiez.

Mitte der 60er betreibt Schulz Stundenhotels und Nachtclubs wie das "King George", in denen er anschaffen lässt. Als Zuhälter lebt er von der Prostitution - und als Casino-Betreiber vom Glücksspiel. Er selbst bezeichnet sich allerdings als "Kaufmann in der Gastronomie". Schulz liebt es extravagant und trägt gerne Nadelstreifenanzug und Schuhe aus Krokodilleder. Wegen seines eitlen Habitus bekommt er in der Szene den Spitznamen "Frida" verpasst - eine Anspielung auf eine Blumenfrau. Er selbst hasst den Namen und reagiert aggressiv, wenn er "Frida" genannt wird.

Schulz tritt auf wie ein hanseatischer Kaufmann: "Dunkle Haare. Der hatte ein sehr seriöses Gesicht und sah an sich ganz gut aus. Auch kein Riese, aber der war irgendwie ganz eindrucksvoll ... Der kam nicht. Er erschien", beschreibt ihn Helmut Voß, der damals in der verdeckt arbeitenden FD65 gegen Kiez-Kriminelle ermittelt.

St. Pauli in den 60ern: Goldene Zeit für Zuhälter

Aber Schulz kann auch anders: Mit Gewalt vertreibt er 1965 österreichische Zuhälter, die sich auf dem Kiez breitmachen wollen. Das Gleiche passiert mit unliebsamen Konkurrenten wie dem "Schläger-Fred" oder dem "Schweine-Harry". Gegnern verpasst er eine Lektion - "so war ein Messerstich in den Hintern ein Denkzettel, der unter dem Begriff 'antöten' lief", schreibt das Hamburger Abendblatt. Als Helfershelfer dient ihm dabei die "Schwarze Gang" um Horst Fascher. Der Ex-Boxer schlägt unliebsame Konkurrenten nicht selten krankenhausreif - und landet dafür später im Gefängnis. In einem Klima, das Angst verbreitet, steigt Wilfrid Schulz zur "unangefochtenen Nummer eins im Hamburger Rotlichtmilieu" auf, so "Die Welt".

St. Pauli ist damals ein krimineller Sumpf gewesen. Das war eine goldene Zeit für die Zuhälter … Die haben am Morgen die Geldscheine mit der Schubkarre wegfahren können ... Der damalige "Pate" von St. Pauli, Wilfrid Schulz, hatte mehrere Spielkasinos in seinem Pauli-Milieu. Es war sehr lukrativ, weil alles verrucht war. Es herrschte Doppelmoral. Pornografie war verboten - und jeder wollte dieses verbotene Leben. Waldemar Paulsen, ehem. Zivilfahnder auf St. Pauli, in "Reeperbahn Spezialeinheit FD 65"

Filmfigur aus "Die Engel von St. Pauli" erinnert an Schulz

"Die Engel von St. Pauli" Fernsehfilm mit Horst Frank, Deutschland 1969, Regie: Jürgen Roland. © picture alliance/United Archives Foto: Siegfried Pilz
Wilfrid Schulz als Vorbild für eine Filmfigur? Horst Frank spielt 1969 einen Luden, der stark an den "Paten" von St. Pauli erinnert.

Das halbseidene Leben von Schulz wird 1969 sogar zum Filmstoff. Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen sind in Jürgen Rolands "Die Engel von St. Pauli" zwar frei erfunden, wie es im Vorspann heißt. Die Rolle des Luden Jule Nickels, gespielt von Horst Frank, erinnert allerdings sehr an an den St. Pauli-"Paten". Zumal Schulz für den Film als Berater zur Verfügung gestanden haben soll.

"Dakota-Uwe" hält Schulz den Rücken frei

Schulz' Aufstieg ist der Beginn einer fast 20-jährigen Herrschaft auf dem Kiez. Der Lude sorgt dafür, dass seine Geschäfte von außen nicht gestört werden. Dabei hilft ihm der 120-Kilo-Mann Uwe Carstens, genannt "Dakota-Uwe", als Geldeintreiber. Auch der kann ordentlich hinlangen. Schulz äußert sich dazu damals in einem Fernsehinterview: "Jawohl, das stimmt. Aber es haben sich nur Leute im internen Umkreis von Pauli geschlagen. Keine Touristen und keine Besucher wurden belästigt."

Wilfrid Schulz hatte ja überall die Finger drin, aber hauptsächlich im Prostitutionsgeschäft. Er war sehr vorsichtig, sich die Finger schmutzig zu machen. Er hatte so seine Leute, hat aber auch Freunde akzeptiert, die ihre eigenen Mädchen laufen hatten, ihre eigenen Puffs hatten. Und das hat er sehr geschickt gemacht, so dass er sich wenig Feinde gemacht hat. Erika Haessler, Ermittlerin der FD 65, in "Reeperbahn Spezialeinheit FD 65"

Parallelgesellschaft mit eigenen Gesetzen auf St. Pauli

Blick auf die berühmte Große Freiheit, eine Seitenstraße der Reeperbahn, im Vergnügungsviertel in Hamburg-St. Pauli im Jahre 1962. © picture alliance Foto: Wolfgang Herold
St. Pauli ein rechtsfreier Raum? In seiner Zeit als Herrscher über den Kiez stellt Schulz seine eigenen Gesetze auf und spielt sich als "Richter" auf.

Auf St. Pauli wächst im Laufe der Zeit eine Parallelgesellschaft mit eigenen Gesetzen heran, in der Schulz als eine Art Richter fungiert. Er hält Schauprozesse ab und spricht Urteile aus. Zu den härtesten Strafen gehört der Rauswurf aus der Stadt. Der Einsatz von Waffen hingegen ist verpönt. "Wir machen alles durch die Faust. Und wenn es durch die Faust nicht geht, durch mein Gericht. Und dann wird die Sache geregelt", beschreibt der damalige Staatsanwalt Rüdiger Bagger in der True-Crime-Doku die damalige Schulz'sche Praxis.

Um die Integrität der Polizei ist es seinerzeit nicht gut bestellt. Zivilfahnder Paulsen etwa berichtet in der True-Crime-Dokumentation "Reeperbahn Spezialeinheit FD65" von einem "Kollegen, der ein Verhältnis mit einer Prostituierten hatte." Razzien bleiben ergebnislos, weil es Lecks auf St. Pauli gibt. "17 Beamten vom viel beredeten Revier 15 an der Reeperbahn, der Davidwache, wurde damals vorgeworfen, Schmiergelder empfangen und dafür die Halb- und Unterwelt auf der ziemlich sündigen Meile mit Informationen versorgt zu haben", schreibt der "Spiegel".

Wilfrid Schulz tritt als Box-Promoter in Erscheinung

Aber Schulz tritt nicht nur als Zuhälter auf: Ab 1972 initiiert er als Box-Veranstalter Profi-Events - von Kämpfen um deutsche Meistertitel bis zu Europameisterschaftskämpfen. Veranstaltungsorte in Hamburg sind unter anderem die Ernst-Merck-Halle, die Sporthalle und das CCH. Auch in der Kieler Ostseehalle finden Boxkämpfe statt. Schulz strebt nach einem bürgerlichen Ansehen und gesellschaftlicher Anerkennung. Auf einer Box-Gala im Jahr 1977 versucht er, den Profi-Boxsport zu inszenieren und umgibt sich mit Prominenten wie dem Schauspieler Horst Frank und Sängerin Katja Ebstein. Die Veranstaltung wird vom NDR Fernsehen, in Teilen auch von der ARD übertragen.

Absprung aus dem Rotlichtmilieu misslingt

Schulz will das Boxen gesellschaftsfähig machen. Die höheren Gesellschaftskreise sollen ihm beim Absprung aus dem Rotlichtmilieu helfen. Doch das misslingt gründlich - Schulz' Veranstaltung wird von Ermittlern eingestuft "als Treffen der Halbwelt" und als einer "der größten Ganovenbälle, der wohl jemals in Deutschland stattgefunden hat", wie es später im "Spiegel" heißt. Allerdings gibt es auch eine Kehrseite: Ohne das Rotlichtmilieu wäre das Boxen wohl nicht so erfolgreich geworden.

Schulz knüpft Kontakte zur US-Mafia

Seine Ambitionen als Box-Promoter können nicht darüber hinwegtäuschen, wie schamlos Schulz diese Funktion auch als Deckmantel für seine kriminellen Geschäfte nutzt. Er reist als Box-Manager über den großen Teich. Doch statt Boxer anzuwerben, knüpft er dort Kontakte zu Größen der US-Mafia. Mafiosi wie Joe Nesline und Dino Cellini sollen ihm dabei helfen, ein Glücksspiel-Imperium aufzubauen. In den Hinterzimmern seiner seriös anmutenden Casinos betreibt er Falschspiel - mit gezinkten Karten und manipulierten Roulette-Kesseln. Und Hamburg entwickelt sich in den 70ern zum Eldorado des illegalen Glücksspiels.

Fachdirektion 65 lässt Telefone von Schulz überwachen

Die ab 1982 tätige Fachdirektion 65 erkennt die kriminellen Dimensionen und versucht, ein Ermittlungsverfahren gegen Schulz aufzubauen - und eine Telefonüberwachung unter anderem für sein Etablissement "Chérie" am Steindamm zu bekommen. Mehrere Anschlüsse werden mit richterlicher Genehmigung über ein Jahr überwacht.

"Wilfrid saß im gestreiften Schlafanzug auf dem Bett"

Um Schulz' Machenschaften zieht sich langsam eine Schlinge. Nach anderthalb Jahren Ermittlungsarbeit setzen im November 1982 rund 600 Leute zum Schlag gegen das Organisierte Verbrechen an, ausgestattet mit Haftbefehl und Durchsuchungserlaubnis. Eine Einsatzgruppe stürmt die Villa von Schulz in Blankenese: "Und Wilfrid saß im gestreiften Schlafanzug auf dem Bett", erzählt Erika Haessler, die einzige weibliche Ermittlerin bei der FD65. Zur gleichen Zeit wird auch Schulz' Geschäftspartner Uwe Carstens verhaftet. "Das war eine Aktion, die wirklich total geheim gehalten wurde", sagt Wolfgang Sielaff, der die Spezialeinheit damals leitet, rückblickend. Und auch die Gegenseite sei total überrascht worden.

Allerdings ist das nicht Schulz' erste Verhaftung, insgesamt haben Beamte ihm schon rund 50 Mal die Handschellen angelegt. Doch nur einmal wurde Schulz verurteilt, wegen Steuerdelikten, ansonsten gab es Freisprüche und Einstellungen - Zeugen waren umgefallen, Strafanträge zurückgezogen worden, so der "Spiegel". "Teflon-Wilfrid. An ihm blieb nichts hängen. Alter mafiöser Ausdruck. Er wurde nie erwischt. Und wenn doch, wurde er immer wieder freigesprochen oder saß nur kurz ...", resümiert Ex-Staatsanwalt Bagger in "Reeperbahn Spezialeinheit FD65" ernüchtert.

Orgainisierte Kriminalität kein Bestandteil des Verfahrens

Angeklagt wegen Steuerhinterziehung und Förderung der Prostitution: Wilfrid Schulz, der "Pate" von St. Pauli, am 4. Februar 1984. © picture alliance / rtn - radio tele nord Foto: Peter Wüst
Verurteilung wegen Prostitution und Steuervergehen: Schulz wird 1984 zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.

Ende 1982 lautet die Anklage auf Bildung einer kriminellen Vereinigung, Förderung der Prostitution, Rauschgiftvergehen sowie Steuerbetrug. 14 Monate verbringt Schulz in Isolierhaft. Er ist gesundheitlich bereits angeschlagen, als die Anklageschrift um Steuerhinterziehung und falsche eidesstattliche Versicherung erweitert wird. Mitte April 1984 folgt dann das Urteil: Schulz muss wegen Förderung der Prostitution, Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis. Obwohl es auch Hinweise zu Falschspiel und mafiösen Kontakten in den Ermittlungsakten der FD65 gibt, haben die Vorwürfe vor Gericht keinen Bestand.

Gefängnisstrafe "bricht Schulz das Genick"

"Eigentlich war es nichts Bedeutsames", fasst Bagger die Anklage und Strafe gegen Schulz zusammen. Dennoch: "Dreieinhalb Jahre Gefängnis … Das hat ihm nachher das Genick gebrochen." Schulz' Lokal "Chérie" wird geschlossen. Der "Pate" von St. Pauli zieht sich schlussendlich vom Kiez zurück. Am 6. August 1992 stirbt Schulz an den Folgen einer Krebserkrankung. Er wird auf dem Friedhof in Hamburg-Blankenese beerdigt.

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Dieses Thema im Programm:

Reeperbahn Spezialeinheit FD65 | 04.01.2023 | 21:00 Uhr

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