Plattenbau Lütten Klein: Von der Boom-Town zum Problemviertel?
Der Plattenbau war in der DDR eine Verheißung: Zentralheizung, Warmwasser, Licht, Luft, Platz. Autor Steffen Schneider besucht das Rostocker Plattenbau-Viertel Lütten Klein und damit den Ort seiner Kindheit - und dessen Geschichte.
von Steffen Schneider und Katharina Tamme
Eine Neubauwohnung zu ergattern war im Rostock der späten 1960er-Jahre wie ein Gewinn im Lotto. Rostock war DDR-Boom-Town mit Werften, Hafen, Motorenwerk und Universität. Das Plattenbau-Viertel Lütten Klein wurde zu einem Modellfall in der DDR - die erste zusammenhängende Neubau-Stadt.
Reporter Steffen Schneider wuchs in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Lütten Klein auf - Erstbezug 1969. Die erste eigene Wohnung im dritten Stock der Binzer Straße 25 hat die junge Familie Schneider nur mit Beziehungen bekommen - ein Glücksfall! Er war damals gerade ein Jahr alt und wohl auch der Grund für die Wohnungsfreigabe, wie er vermutet. Draußen, zwischen den frisch gebauten Wohnblöcken der Binzer Straße war von den alten Ahorn-Bäumen, die Lütten Klein jetzt, 50 Jahre später, zu einem grünen Stadtteil macht, noch nichts zu sehen. Baugruben und große Pfützen prägen damals das Bild - ein Kindheitsparadies.
Lütten Klein - die Vorzeige-Stadt
Lütten Klein wird von Mitte der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre gebaut, als das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm der DDR noch in den Kinderschuhen steckt. Unter dem Motto "Jedem seine Wohnung" sollen die Wohnverhältnisse der DDR-Bürger besser werden. Die "Platte" macht es möglich: Einmal geplant, tausendfach gebaut, soll sie nicht nur der Wohnungsnot Abhilfe schaffen. Die DDR plant das Alltags- und Freizeitleben in den neu errichteten Plattenbau-Vierteln gleich mit: Zwischen den Wohnblöcken werden Infrastruktur-Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Polikliniken, Kaufhallen, Kinos und Gaststätten und viele Bäume mit geplant, gebaut und gepflanzt. Sogar eine Straßenbahn-Linie, die die komplexe Neubaustadt "mit dem alten Rostock" verbindet, wurde mit geplant. Gebaut wurde sie allerdings erst nach der Jahrtausendwende mit der Netzerweiterung der Rostocker Verkehrsbetriebe. 50.000 Einwohner sollen hier ihre neue Heimat finden.
Innerhalb von nur zehn Jahren entstehen in der schwer vom Zweiten Weltkrieg zerstörten Hansestadt Rostock so mehr als 10.000 Wohnungen quasi "auf der grünen Wiese". Zwischen dem historischen Innenstadt-Kern und dem Fischerdorf Warnemünde wird Lütten Klein das größte geschlossene Neubaugebiet Rostocks. Als erster komplett auf dem Reißbrett geplante Teil der neuen sozialistischen Großstadt im Rostocker Nordwesten steht es Pars pro Toto für die seit den 70er-Jahren in der DDR gebauten Vorzeigestädte wie Halle-Neustadt, Hoyerswerda oder Berlin-Marzahn, die etwa zur gleichen Zeit entstehen.
Rückkehr nach Lütten Klein für sieben Tage
Jetzt, mehr als 50 Jahre später, macht sich Filmemacher und Autor Steffen Schneider auf die Suche nach dem neuen Lütten Klein. Durch einen Glücksfall bekommt er von der Wohnungsbaugesellschaft eine Wohnung in dem Hausaufgang, in dem er aufgewachsen ist. Sieben Tage verbringt er in der Nachbarwohnung seiner Kindheit und braucht nicht lange, um sich zurechtzufinden. "Es ist die gleiche Wohnung, also die Nachbarwohnung meiner Eltern. Da alles gleich ist in diesen Blöcken, ist das ja egal."
Die "Platte" - Lebenswerk von Architekt Christoph Weinhold
Einer, der am Städtebau-Projekt Lütten Klein mitgewirkt hat und noch immer hier lebt, ist Christoph Weinhold. Steffen Schneider besucht ihn im Dachgeschoss des heutigen Einkaufszentrums "Warnowpark", in seiner ursprünglich als Büro geplanten Wohnung. Von dort aus blickt der Architekt und einstige Chef des Rostocker Stadtplanungsamtes noch heute auf sein Lebenswerk. Als Architektur-Student kommt er 1966 für ein Praktikum nach Rostock, bleibt und wird schließlich einer der Planer für den neuen Rostocker Nordwesten. Eine aufregende Zeit für den jungen Dresdner, denn städteplanerisch wird seinerzeit an der Ostsee Geschichte geschrieben. Darüber, dass sie damals das Wort "Plattenbau" selbst kreiert haben, ärgert sich Weinhold noch heute. "Ich wohne in der 'Platte' - das hat uns keiner eingeredet. Das haben wir gesagt." Heute haftet der "Platte" ein schmuddeliges Image an. Steffen Schneider erinnert sich daran, dass es früher anders war: Die "Platte" seiner Kindheit war ein kleines Paradies.
Wohnkomfort mit Ostsee-Blick - besonders für Familien
Eine Wohnung in den "Neubauten" ist damals heiß begehrt - die Wartelisten für eine Zuweisung sind lang. Einen freien Wohnungsmarkt wie heute gibt es in der DDR nicht. Wer verheiratet ist, kann sich Hoffnungen machen. Je mehr Kinder die Familie hat, desto größer ist die Chance auf modernes, helles "Wohnen mit Vollkomfort". Ganz im Gegensatz zu vielen Altbauwohnungen und den Wohnkasernen der 1920er-Jahre, die seitdem kaum modernisiert wurden. "Wohnen in den Neubauten" bedeutet in den Anfängen vor allem Fernwärme statt Kohle-Öfen, Warmwasser aus der Leitung, eigenes Badezimmer statt geteiltem Klo auf halber Treppe und Dusche in der Küche. Es ist hell, der Blick vom Südbalkon geht über die Wiesen und bei klarem Wetter sieht man das 15 Minuten entfernte Warnemünde und die Ostsee. Auch heute noch.
"Lütten Klein grüßt den Rest der Welt"
Lütten Klein ist Anfang der 70er-Jahre gar der kinderreichste Stadtteil Rostocks. Hier wohnen bereits mehr als 30.000 Menschen, zehn Jahre später sind es fast 40.000. Etwa die Hälfte davon sind Kinder und Jugendliche, so wie Steffen Schneider. "Da draußen, da wohnten sie alle. Gabi, Katrin, Björn, Thomas, Heike", sagt Schneider aus dem Fenster seines neuen alten Domizils zeigend. Und einige haben Lütten Klein nie verlassen, so wie seine Schulfreundin Martina. Sie besitzt seit 13 Jahren "Tinas Tabakshop" in der bereits in der DDR geplanten, aber erst in der BRD gebauten Ladenpassage "Warnowpark" - ihr Laden ist eine Institution in Lütten Klein. Vor dem Geschäft stehen Postkarten-Ständer mit Luftaufnahmen des Stadtteils. "Lütten Klein grüßt den Rest der Welt", ist darauf zu lesen.
Buchstudie: Lütten Klein wird erneut Modellfall
Seit der Wende und der Wiedervereinigung werden viele der einst beliebten DDR-Neubau-Viertel soziale Brennpunkte. Nicht so Lütten Klein. Vielleicht weil der Stadtteil nie pure "Schlafstadt" war, sondern bis heute eher einer Stadt in der Stadt ähnelt. Etwa ein Viertel der Bevölkerung wohnt zu DDR-Zeiten in der "Platte", in Rostock sogar 70 Prozent. Im Westen hingegen leben damals nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung in Plattenbau-Siedlungen. Steffen Mau, heute Soziologie-Professor an der Humboldt Universität in Berlin, hat über Lütten Klein ein Buch geschrieben. Auch er wuchs hier in den 1970er-Jahren auf.
Vier Polytechnische Schulen, zwei Turnhallen und ein Kindergarten bilden in Schneiders Kindheit und Jugend in Lütten Klein einen zusammenhängenden Komplex. Auch Steffen Mau hat hier die Schulbank gedrückt und Kindheit und Jugend verbracht - bis zum Mauerfall. In dieser November-Nacht 1989 hat er Wachdienst bei der NVA, hört die Nachricht von der Öffnung der Grenzen aus einem kleinen Transistorradio, wie er in "Lütten Klein - Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft" schreibt. Nach der Wende geht er - wie viele - weg aus Rostock und beginnt ein Studium in Berlin. Auch er kehrt wie der Filmemacher Schneider aus beruflichem Interesse, aber mit privatem Blick 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zurück.
Vor dem Wohnkomplex sind alle Menschen gleich
Mau sieht in der Wohnungsbaupolitik der DDR, das er am Beispiel seines Heimat-Viertels unter die Lupe nimmt, auch den Versuch, die Lebensweisen der Menschen zu vereinheitlichen. "Ob das jetzt ein Professor war, ein Opernsänger oder 'ne Chemie-Laborantin: Die haben alle gleich gewohnt. Das heißt, man konnte an den Wohnformen nicht mehr erkennen, zu welcher Schicht die Leute eigentlich gehören." Im Plattenbau wohnten alle gesellschaftlichen Schichten unter einem Dach.
Schneider erinnert sich an fünf Arbeiterfamilien, zwei Offiziersfamilien, zwei Rentner und 14 Kinder in seinem Aufgang. Hochzeiten, Tanzabende, runde Geburtstage - gefeiert wurde im Trockenraum im Keller. Für Mau ist das Lütten Klein seiner Heimat auch ein Stück Identifikation mit dem Stadtviertel, die Plattenbau-Siedlung in seiner Erinnerung ein lebenswerter Ort - und eine Fahrt in die Rostocker Innenstadt war "vielleicht nicht eine Weltreise, aber schon irgendwie eine Expedition", erinnert er sich.
Mit der Wende beginnt die Abwanderung
Mit der Wende und dem Systemwechsel wandelt sich auch das Stadtbild in der ehemaligen Vorzeige-Stadt. Wo früher alle sozialen Schichten gleich wohnten, prägt zunehmend soziale Spaltung das Bild. Wer es sich leisten kann, zieht in die Innenstadt oder baut ein Eigenheim im Umland. Zurück bleiben finanziell Schwächere, Rentner, Menschen in unsicheren Jobs. Dabei kommt die Wiedervereinigung zunächst mit einem Gefühl der Freiheit und der Verheißung von Wohlstand. Aus der Erinnerung von Steffen Mau zeigt sich diese Verheißung zuerst in den ehemaligen Kaufhallen, die nun Supermärkte heißen und in denen sich neuerdings Fruchtjoghurt-Paletten stapeln. Der Mangel weicht dem Überfluss.
"Aus Werktätigen werden Untätige"
Auf der anderen Seite beschreibt Mau die Wiedervereinigung für die Menschen in Ostdeutschland auch als ökonomischen und sozialen Schock. Auf der Warnemünder Warnowwerft, auf der bis 1989 fast 6.000 Menschen arbeiteten, sowie der Neptun Werft mit etwa 7.000 Mitarbeitern, setzt eine massive Entlassungswelle ein. Das macht sich auch in Lütten Klein bemerkbar. "Aus vielen Werktätigen wurden Untätige", schreibt Mau, viele müssen sich umorientieren, plötzlich sieht man in Lütten Klein auch tagsüber junge Menschen auf der Straße. Maus ehemalige Nachbarn, Mitschüler, Bekannte sind plötzlich auf staatliche Unterstützung angewiesen. Aus Supermärkten werden Sozialkaufhäuser, die Tafel eröffnet eine Ausgabestelle.
Die "Platte" wird "ästhetische Zumutung"
"Die Platte", einstmals ein arriviertes Wohnviertel, Heimstadt der werktätigen Bevölkerung, wird zum Problemfall. "Wenn man sich mal die Einkommen anguckt oder den Bildungsgrad - da waren die Menschen in den Neubau-Vierteln ein bisschen überm Durchschnitt. Und die haben diesen Prestige-Verfall extrem erlebt. Plötzlich haben alle gesagt: Igittigitt, die Platte ist 'ne ästhetische Zumutung. Da kann man nicht wohnen. Das sind Problem-Ghettos," sagt Steffen Mau im Gespräch mit Steffen Schneider.
"Paris, Athen auf Wiedersehen. Ich bleib jetzt hier"
Doch Lütten Klein hat den Wandel geschafft. Die sozialistische Satelliten-Stadt hat sich zu einem lebenswerten Kiez gemausert, der grün, aber etwas in die Jahre gekommen ist - wie auch seine Bewohner. Einige, die da geblieben sind, wie der Architekt Christoph Weinhold oder Schneiders Schulfreundin Martina, fühlen sich wohl im heutigen Lütten Klein. In der alten Wohnung in der Binzer Straße hat Martina Wände rausgerissen und aus der "Zweizweihalbe-Wohnung" ein lichtdurchflutetes Loft gemacht. "Ich bin Lütten Klein immer treu geblieben, warum soll ich denn wegziehen? Hier hast du doch alles. Ich hab' meine Freunde hier, nach Warnemünde ist es nicht weit, zwanzig Minuten mit Rückenwind. Ich hab 'ne schöne Wohnung, ich hab 'nen Garten. Paris, Athen auf Wiedersehen. Ich bleib jetzt hier", sagt Martina mit dem Postkarten-Ständer in der Hand.
Hinweis der Redaktion: In einer vorigen Version des Artikels hieß es, Lütten Klein wäre über eine damals gleich mit geplante Straßenbahn mit der Innenstadt verbunden worden. Richtig ist aber, dass der Rostocker Nordwesten über eine S-Bahn verbunden war. Wir haben die Ungenauigkeit korrigiert.