Stand: 12.06.2019 15:57 Uhr

1944: Angriff mit V1-Bomben auf London

von Dirk Hempel, NDR.de
Zerstörtes Haus im Londoner Stadtzentrum © HTM Peenemünde Foto: Johann Lühe
In London zerstören die V 1-Bomben zahlreiche Häuser.

Am frühen Morgen des 13. Juni 1944 werden die Menschen im Süden Englands von röhrenden Motorengeräuschen aus dem Schlaf gerissen. Ein längliches Flugobjekt mit Feuerschweif fliegt in der Dämmerung am Himmel. Plötzlich verstummt der Lärm, dann gleitet die fliegende Bombe zu Boden und explodiert. Mit 830 Kilogramm Sprengstoff bestückt schlägt sie einen Krater von sechs Metern Durchmesser, noch in hundert Metern Entfernung richtet sie Verwüstungen an. Insgesamt vier fliegende Bomben detonieren an diesem Dienstagmorgen. In London sterben sechs Menschen, Dutzende werden verletzt, zahlreiche Häuser beschädigt, eine Eisenbahnbrücke zerstört.

Marschflugkörper für den "Endsieg"

Eine deutsche V1-Bombe fliegt 1944 Richtung London. © picture-alliance/United Archives/TopFoto
Die V1 ist die erste Bombe, die über längere Distanzen fliegen kann.

Deutsche Flaksoldaten haben die Bomben an der französischen Kanalküste gestartet: Es handelt sich um "Fieseler Fi 103", die ersten Marschflugkörper der Kriegsgeschichte - vor ihrem Einsatz monatelang getestet in Peenemünde auf der Insel Usedom. Besser bekannt als V1, "Vergeltungswaffe 1", wie sie bald in der NS-Propaganda heißt: "Vergeltung" an der britischen Zivilbevölkerung für die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte. Die erste jener sogenannten Wunderwaffen, die Hitler und Goebbels schon seit Langem ankündigen und mit denen sie im fünften Kriegsjahr das Blatt wenden und den "Endsieg" erringen wollen.

Erprobungsstelle Peenemünde

Der Startplatz der Fi 103. © HTM Peenemünde Foto: Johann Lühe
In Peenemünde wird die V1 erprobt. Die Alliierten fotografieren die Startrampe aus der Luft.

Seit den frühen 1930er-Jahren wird in Deutschland an Gleit-, Torpedo- und fliegenden Bomben gearbeitet, die im Gegensatz zu den fallenden Bomben Distanzen überwinden und mehr oder weniger ins Ziel gesteuert werden können. Neben Henschel in Berlin und Blohm + Voss in Hamburg arbeiten auch die Fieseler-Werke in Kassel an solchen Vorhaben. Denen erteilt das Reichsluftfahrtministerium im Juni 1942 den Auftrag, den Marschflugkörper "Fi 103" zur Serienreife zu entwickeln. Schon sechs Monate später wird er in der Erprobungsstelle der Luftwaffe Peenemünde-West auf Usedom zum ersten Mal gestartet - durch ein Katapult mit einer 48 Meter langen und am Ende sechs Meter hohen Abschussrampe, die nach ihrem Konstrukteur, dem Kieler U-Boot-Ingenieur Hellmuth Walter, Walter-Schleuder genannt wird.

Ein Zählwerk löst den Sinkflug aus

Die V1 hat eine Rumpflänge von 7,20 Metern, eine Flügelspannweite von über fünf Metern und wiegt 2,1 Tonnen. Angetrieben von einem Verpuffungs-Strahltriebwerk erreicht sie eine Höchstgeschwindigkeit von rund 640 Stundenkilometern. Die Reichweite beträgt etwa 240 Kilometer. Ein Zählwerk beendet beim Erreichen der voreingestellten Entfernung die Benzinzufuhr und kippt das Höhenruder, dann geht die Bombe in den Sinkflug über. Die Zielgenauigkeit liegt zwar nur bei zwölf Kilometern. In einer so großen Metropole wie London richten die Bomben dennoch verheerende Schäden an.

Britische Zeitungen melden Attacken "pilotenloser Flugzeuge"

Die britische Regierung ist nach dem Einschlag der ersten vier V1 am 13. Juni 1944 so verunsichert, dass sie Presseberichte über die fliegenden Bomben zunächst verbietet, um eine Panik in der Bevölkerung zu vermeiden. Erst nach Tagen melden die Zeitungen Attacken "pilotenloser Flugzeuge" auf Großbritannien. Da haben die Deutschen bereits den eigentlichen massierten Angriff mit fliegenden Bomben gestartet, der mehrere Wochen dauern soll. Schon am ersten Tag schlagen im Großraum der britischen Hauptstadt 73 V1 ein, die die Briten wegen ihres Fluggeräuschs bald "doodlebug" oder "buzz bomb" nennen.

Ein Londoner, dessen Haus bei den Angriffen zerstört wird, berichtet über die V1: "Als ich sie kommen sah, flog sie etwa 300 bis 400 Stundenkilometer in gut 600 Meter Höhe. Sie war nicht halb so lang wie ein Spitfire-Jagdflugzeug, hatte keinen Propeller und kein Leitwerk, verlor allmählich an Höhe. Meterlange Blitze kamen hinten aus dem Rumpf. Sie waren rötlich-gelb, wurden in Abständen von fünf Sekunden ausgespien. Gerade als sie über meinem Kopf war, ging ihre Maschine aus und die Blitze verschwanden. Sie flog einen Halbkreis, begann dann zu sinken und schlug durch das Dach eines Nachbarhauses. Wenige Sekunden später flog alles in die Luft."

Täglich schlagen bis zu 100 V1 ein

Ein Angehöriger des Zivilverteidigungskommandos beschreibt den gleichen Angriff von Mitte Juni 1944: "Zuerst hörte man ein tiefes Röhren, ein greller Blitz folgte, der Luftschutzwart sprang auf. Das Geschoss hatte die Kreuzung getroffen. Der Weg dorthin führte durch einen Alptraum aus Rauch und Staub. Die Straße war bedeckt mit Blättern, Glas und Trümmern. Verletzte und Unverletzte kamen herausgestürzt, verwirrt und fassungslos im trüben Dämmerlicht. Die Kreuzung war verwüstet. Vier große Häuser waren bis auf die Grundmauern zerstört, Dutzende andere beschädigt, und in den meisten befanden sich noch Menschen, denen geholfen werden musste."

Innerhalb einer Woche sterben in London Hunderte Menschen, werden Häuser, Straßen, Schienenwege zerstört. Ein zweiter "Blitz" - nach den monatelangen Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe von 1940/41 - hat begonnen. Ende Juni schlagen noch immer täglich 70 bis 100 V1-Bomben in London ein. Unter der Bevölkerung verbreiten sich Angst und Schrecken.

Auch Belgien wird beschossen

Bis März 1945 feuern die Deutschen rund 10.500 Marschflugkörper auf Ziele in England ab, nach dem Rückzug aus Frankreich im September 1944 auch von Holland und Deutschland aus. Hunderte V1 werden von Heinkel-Bombern in der Luft abgesetzt. Die meisten sind auf London gerichtet, aber auch auf Manchester, Southampton und Gloucester. Am Ende des Krieges gerät Belgien ins Visier der Marschflugkörper: Insgesamt 11.892 V1-Bomben werden noch auf den alliierten Nachschubhafen Antwerpen, auf Brüssel und Lüttich gerichtet.

Dieses Thema im Programm:

21.07.2004 | 23:05 Uhr

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