Bombenabwurf der Royal Air Force über dem Deutschen Reich während des Zweiten Weltkriegs. © picture-alliance

"Operation Hydra": Bomben auf Hitlers Raketenschmiede

Stand: 22.08.2024 11:44 Uhr

In der Nacht vom 17. auf den 18. August 1943 greifen die Briten die Konstruktionsstätten der "V2"-Rakete in Peenemünde an. Ziel sind die deutschen Entwickler, doch die Bomben treffen auch viele Zwangsarbeiter.

von Henning Strüber, NDR.de

Fast 600 Bomber der Royal Air Force (RAF) entladen ihre todbringende Last in dieser August-Nacht 1943 über dem Nordzipfel der Insel Usedom. Das Ziel des Angriffs: Peenemünde. In dem verschlafenen Fischerdorf ist in den Jahren zuvor eines der größten Geheimprojekte der Nationalsozialisten aus dem Boden gestampft worden: die Heeresversuchsanstalt (HVA) und die Erprobungsstelle der Luftwaffe "Peenemünde-West".

Fataler Pakt mit den Nationalsozialisten

Dort arbeiten seit 1936 Wissenschaftler unter der Leitung des Raketenpioniers Wernher von Braun an der militärischen Entwicklung von Raketen. Der gleichermaßen musisch wie naturwissenschaftlich begabte Ingenieur träumt schon als junger Mann davon, eines Tages eine Rakete zum Mond zu schießen. In Peenemünde geht von Braun aus Opportunismus den fatalen Pakt mit den Nationalsozialisten ein, die ihm nahezu unbegrenzte Mittel für seine Forschungen zur Verfügung stellen.

Ziel: Das mehrköpfige Ungeheuer enthaupten

Von Braun und die übrigen Wissenschaftler sind auch das Hauptziel der "Operation Hydra" - so der Name der britischen Mission. In Anlehnung an den griechischen Mythos soll dem Ungeheuer - in diesem Fall dem NS-Raketenprogramm - der Kopf abgeschlagen werden. Die von den Briten gefürchteten neuartigen Waffen sollen noch vor deren serienmäßigem Kriegseinsatz vernichtet werden. Die Leistungsfähigkeit der Raketen scheint tatsächlich enorm. 1942 erreicht eine in Peenemünde abgeschossene Großrakete des Typs "Aggregat 4" erstmals den Weltraum. Die NS-Propaganda benennt die "Aggregat 4" später in "Vergeltungswaffe" 2 (V2) um - und bezeichnet damit eine angebliche Wunderwaffe als Antwort auf die alliierten Luftangriffe.

Briten erhalten Informationen über deutsche Geheimwaffe

Luftbildaufnahmen von Peenemünde vom Juli 1944 liegegn auf einem Tisch. © picture-alliance / ZB Foto: Bernd Wüstneck
Anhand von Luftbildaufnahmen kommen die Briten dem Geheimnis von Peenemünde schließlich auf die Spur.

Seit 1939 haben die Briten Hinweise auf Rüstungsvorhaben der Wehrmacht, bei denen auch Raketen eine Rolle spielen. Doch bevor der Überraschungsangriff auf Hitlers Raketenschmiede anrollen kann, müssen die Briten herausfinden, was eigentlich genau ihr Ziel ist und wo es sich befindet. Die Masse der teils widersprüchlichen Hinweise ist jedoch erdrückend. Viele Meldungen verstauben in Schubladen. Andere hält die britische Abwehr für Finten der deutschen Gegenspionage. Mithilfe neuer Fototechnik gelingt es britischen Luftbildauswertern schließlich, Peenemünde als das gesuchte Ziel ausfindig zu machen. Der Angriff kann starten.

Gelungenes Täuschungsmanöver

Der Einsatz in jener August-Nacht läuft gut an. Ein erstes Täuschungsmanöver gelingt: Denn schon in den Nächten zuvor waren Bombergeschwader über die Insel geflogen, Luftalarm wurde am Boden ausgelöst, doch anstatt ihre Bomben über der Heeresversuchsanstalt abzuwerfen, griffen die Bomber schließlich Berlin an.

Als die Bomber in der Nacht vom 17. auf den 18. August erneut Kurs auf Peenemünde nehmen, wird ein Großteil der deutschen Abfangjäger in den Großraum Berlin beordert - und in Peenemünde wiegen sich die Mitarbeiter der HVA in Sicherheit. Anstatt schnellstens die Bunker aufzusuchen, machen die Menschen teilweise Scherze über den vermeintlich erneuten Fehlalarm.

Eine folgenschwere Verwechslung

Doch auch die Angreifer unterliegen Irrtümern: Zwar sorgt der Vollmond, der für die Festlegung des Angriffszeitpunkts entscheidend war, für gute Sichtverhältnisse, doch eine dünne Wolkendecke und Nebelwerfer am Boden erschweren die Orientierung für die sogenannten Pathfinder. Diese "Zielmarkierer" verwechseln den eigentlichen Orientierungspunkt - die Insel Ruden, die nördlich von Usedom liegt - mit der Nordspitze Peenemündes. Dadurch verlagert sich der gesamte Angriff etwa drei Kilometer nach Süden.

Führende Wissenschaftler sterben, von Braun überlebt

Start einer "V2"-Rakete © picture alliance / akg-images
1942 dringt eine in Peenemünde abgeschossene Rakete erstmals bis in den Weltraum vor.

Neben Forschungs- und Produktionsanlagen werden nicht nur die Unterkünfte der Wissenschaftler, sondern auch die der Zwangsarbeiter getroffen. Nach Angaben des Historisch-Technischen Museums Peenemünde fallen insgesamt rund 700 Menschen dem Angriff zum Opfer: Wissenschaftler, Einheimische und zum überwiegenden Teil Zwangsarbeiter. Unter den Toten sind führende Köpfe des Raketenprogramms wie der Leiter der Triebwerksentwicklung, Walther Thiel, und der Betriebsdirektor des Entwicklungswerks, Erich Walther.

Von Braun, der sich in einem Bunker in der Nähe des Konstruktionsbüros aufhielt, überlebt das Bombardement hingegen. Militärisch hält sich der Erfolg der Mission in Grenzen. Die Entwicklung der "V2" ist zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend abgeschlossen und Konstruktionspläne sind ausgelagert worden. Bereits knapp zwei Monate nach dem Angriff, am 6. Oktober, hebt wieder eine "V2" in Peenemünde ab.

Tragische Folgen für Zwangsarbeiter

Eingang zum unterirdischen V2-Werk im Kohnstein bei  Nordhausen (Thüringen), Aufnahme vermutlich von 1944. © picture-alliance / dpa
Nach dem Angriff auf Peenemünde forcieren die Nationalsozialisten die Verlegung der Produktion in unterirdische Stollen.

Im nahegelegenen Gemeinschaftslager Trassenheide kommen rund 500 Menschen bei dem Luftangriff ums Leben. Doch das Bombardement hat für die rund 2.500 seit Mai 1943 eingesetzten Zwangsarbeiter aus den Lagern Karlshagen I und II noch viel weitreichendere Folgen: Die bereits vorliegenden Pläne für eine dezentrale Verlegung der "V2"-Produktion in unterirdische Werke werden schnellstmöglich umgesetzt. Ein Teil wird in das unterirdische Werk Mittelbau-Dora bei Nordhausen verlagert, wo inhumane, katastrophale Arbeitsbedingungen herrschen.

Herstellung fordert ähnlich viele Opfer wie Einsatz

Mehr als 12.000 Menschen sterben bei der "V2"-Produktion in den KZ-Außenlagern sowie in den unterirdischen Stollen. Der Kriegseinsatz der "V2", Ziele sind hauptsächlich London und Antwerpen, bringt 8.000 bis 12.000 Menschen - zumeist Zivilisten - den Tod. Damit fordert die Herstellung der "V2" sogar mehr Opfer als deren Einsatz.

Gefürchtete "Wunderwaffe"

Von September 1943 bis März 1945 werden rund 3.200 "V2"-Raketen eingesetzt. Gegenüber der ebenfalls in Peenemünde entwickelten Flugbombe Fi-103 ("V1") gibt es gegen die 14 Meter hohe und mit rund 750 Kilogramm Sprengstoff ausgestattete "V2" keinerlei Abwehr- und Vorwarnmöglichkeiten. Unter der Zivilbevölkerung verbreitet sie großen Schrecken. Dennoch erfüllen sich die Hoffnungen der deutschen Militärs in die "V2" nicht. Der vermeintlichen "Wunderwaffe" gelingt es nicht, den Kriegsverlauf entscheidend zu beeinflussen.

Von Braun geht in die USA - und entwickelt weiter Raketen

Raketenforscher Wernher von Braun 1969 © picture alliance / Everett Collection
Raketenforscher Wernher von Braun arbeitete nach dem Krieg für die NASA.

Nach Kriegsende fallen den Alliierten "V2"-Raketen in die Hände. Das deutsche Know-how in der Raketentechnik ist im beginnenden Ost-West-Konflikt bei Amerikanern wie Sowjets gleichermaßen begehrt. Trotz seiner Verwicklung in die nationalsozialistische Politik - von Braun war 1938 in die NSDAP eingetreten und wurde später SS-Sturmbannführer - steht der Raumfahrtvisionär alsbald in Diensten der NASA, wo er an der Entwicklung der "Mondrakete" Saturn V beteiligt ist. 1969 geht mit der Mondlandung schließlich der große Lebenstraum des Raketenforschers in Erfüllung.

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Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 02.10.2022 | 19:30 Uhr

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