Tausende Kirchenglocken lagern auf einem Gelände an der Elbe im Hamburger Hafen. © Staatsarchiv Hamburg Foto: Annelore Niejahr

NDR Serie "Was war da los?": Der "stumme Garten der Glocken"

Stand: 09.12.2023 05:00 Uhr

Eine Massenproduktion von Kirchenglocken - zwischengelagert im Hamburger Freihafen? Ganz im Gegenteil: Mehr als 10.000 stumme Relikte an der Elbe zeugen in den 1940er-Jahren von Zerstörung in gigantischem Ausmaß. Die NDR Serie "Was war da los?" klärt auf.

von Stefanie Grossmann

Mal massiv, mal fast zierlich, oft reich verziert und signiert mit Meisterzeichen. Sie sind geschmückt mit Engelsköpfen - und tragen Gravuren wie das uralte Glockengebet in gotischer Schrift: "0 rex gloriae Christe veni cum pace" - "O, König der Ehren, Christus komme zu uns mit Frieden". Die kleinsten unter ihnen wiegen gerade mal sieben Kilogramm, die großen bringen mehr als 500 auf die Waage. Es sind Glocken, die eigentlich in Kirchtürmen hängen und zum Gebet rufen oder Sturm läuten. Und sie "erzählen" von etlichen Epochen Kulturgeschichte, von der Gotik über die Renaissance bis hin zur Neuzeit. Musikinstrumente des Friedens - bewahrt vor Krieg und Zerstörung.

Der "stumme Garten der Glocken" auf der Veddel

Diese sage und schreibe rund 10.000 Glocken, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges in einem eingezäunten Bereich am Reiherstieg auf der Veddel im Hamburger Freihafen lagern, hat die alliierte Militäradministration im Mai 1945 beschlagnahmt. Im Januar 1949 fängt die Fotoreporterin Annelore Niejahr das Motiv ein. Um Zutritt zum Gelände zu bekommen, braucht sie damals einen Dockausweis. Der ist nicht leicht zu bekommen, die Alliierten kontrollieren das Hafengelände. Niejahr ist überrascht von dem Anblick: "Noch niemals, seit Geschichte geschrieben wird, hat es solch ein Bild gegeben", beschreibt sie ihre Eindrücke in einem dem Bild zugehörigen Text. Ein Betrachter habe es den "stummen Garten der Glocken" genannt, so die Fotografin. Etwas weniger poetisch beschreibt es heute Matthias Nuding vom Germanischen Nationalmuseum: "Glocken bis zum Horizont."

Zweiter Weltkrieg: Metallreserve für die Rüstungsindustrie

Glocken lagern auf einem Gelände am Hamburger Hafen. © Staatsarchiv Hamburg
Auf einem Platz im Hamburger Freihafen lagern nach Kriegsende Glocken, so weit das Auge reicht.

"Nun stehen sie hier eng beieinander, auf einem weiten Feld. Doch woher kommen diese Glocken? Warum liegen sie hier? Und wem gehören sie?", fragt sich die Fotografin. Antworten darauf bekommt Annelore Niejahr 1949 im Glockenbüro des Hamburger Hafens. Dort heißt es, die Glocken seien aus ganz Deutschland nach Hamburg gebracht worden, um eingeschmolzen zu werden.

Im Kriegsjahr 1940 erging seitens der Regierung an die Kirchen der ungeheuerliche Befehl, "zur Sicherung der Metallreserve für eine Kriegsführung auf lange Sicht" sämtliche deutschen Kirchenglocken der Rüstungsindustrie zur Verfügung zu stellen. Aus "Das Schicksal der deutschen Kirchenglocken" (Ausschuss zur Rückführung der Glocken, 1952)

Denn: Durch ihren hohen Gehalt an den Sekundärrohstoffen Zinn und Kupfer eignen sie sich ideal als Kriegsmaterial, zur Produktion von Waffen und Munition. Glockenbronze enthält durchschnittlich 20 Prozent Zinn und 80 Prozent Kupfer.

Göring will maximal zwölf Glocken verschonen

Hermann Göring ordnet als damaliger Reichswirtschaftsminister und Generalfeldmarschall die Beschlagnahme an. Der Beginn der 1940er-Jahre ist der Höhepunkt der Metallsammlungen durch die Reichsstelle für Metalle in Berlin. Und die umfassende Erfassung und Demontage von Kirchenglocken als wichtiges Kriegsmaterial durch die Kreishandwerkerschaften gehören dazu. Zuvor waren bereits Pokale, Blasinstrumente, Grabengel und auch Statuen aus Kommunen und von Vereinen beschlagnahmt worden - bezeichnet als "Metallspenden im Namen des deutschen Volkes". Geht es nach Göring, sollen nur zehn bis zwölf Glocken verschont bleiben. Die Kirchen protestieren. Durch ihren Widerstand können schließlich fünf Prozent in den heimischen Kirchtürmen verbleiben.

Das von der Kirche erreichte Zugeständnis, jeder Kirche wenigstens eine Läuteglocke zu belassen, diente offensichtlich nur dazu, den Glockenraub vor der Öffentlichkeit etwas zu tarnen. Die den Kirchen belassene Läuteglocke durfte indessen nicht schwerer als 25 Kilogramm sein.  Werner Finke: "Die Tragödie der deutschen Kirchenglocken" (1957)

Militärbehörde beschlagnahmt auch in besetzten Gebieten

Die beschlagnahmten Glocken stammen überwiegend aus Deutschland, aber auch in den besetzten Gebieten lässt die Militärbehörde enteignen - und kategorisiert die Güter: "Zur Gruppe A mussten nicht nur fast alle Glocken aus der Zeit nach 1800 gerechnet werden, sondern auch eine ganze Reihe von Glocken aus dem 16. bis 18. Jahrhundert und sogar auch mittelalterliche Glocken", erläutert der Ausschuss für die Rückführung der Glocken im Jahr 1952. 77 Prozent aller abgehängten Glocken fallen unter Kategorie A. Bis ins 14. Jahrhundert zurückgehend bleibt also kaum keine Glocke verschont. Nur bei noch älteren Exemplaren sehen die Behörden wegen ihres kulturhistorischen Wertes davon ab, sie einschmelzen zu wollen.

Affinerie und Zinnwerke Wilhelmsburg verhütten Glocken

Mehrere Kirchenglocken lagern aufeinander getürmt. Einige Glocken sind zerbrochen. © Bundesarchiv
Auch durch unsachgemäße Lagerung werden viele Kirchenglocken in den letzten Kriegsjahren irreparabel beschädigt.

1941 sind die Verkehrsverbindungen nach Hamburg trotz des Kriegsgeschehens noch weitgehend intakt. Die Reichsbahn transportiert den weitaus größten Teil aller Glocken zu den beiden Hüttenwerken in die Hansestadt. So landen sie schließlich in den Schmelzöfen der Norddeutschen Affinerie und der Zinnwerke Wilhelmsburg. Fast alle Gruppe-A-Glocken werden sofort zerschlagen und verhüttet - insgesamt etwa 75.000 Stück. Für die "Reserveglocken" wird Platz in einem damals unbenutzten Holzlager am Reiherstieg gefunden. Da die Fläche begrenzt ist, türmen sich die Glocken pyramidenförmig aufeinander - und bekommen so Risse und damit irreparable Schäden. Bombenangriffe auf die Hansestadt beschädigen darüber hinaus mindestens 500 weitere Glocken.

Kriegsende: Glockenbüro wird Anlaufstelle für Gemeinden

Wegen des rigiden Vorgehens der Nationalsozialisten werden fast 80 Prozent aller Glocken zerstört. Anders die rund 10.000 klanglich und künstlerisch besonders wertvollen Exemplare auf der Veddel - das Kriegsende rettet die "Reserveglocken" vor dem Schmelzofen. Über sie wacht nun das Glockenbüro. Zuständig für den Schutz des Glockenlagers vor Diebstahl hält es als zentrale Anlaufstelle die Verbindung zur Militärregierung aufrecht. Die Mitarbeitenden beantworten viele tausend Gemeinde-Anfragen nach dem Verbleib ihrer Glocken.

Glockenarchiv entsteht aus umfangreicher Dokumentation

Heimatlose Glocken von Kirchen im Hafen von Hamburg, die für Rüstungszwecke beschlagnahmt wurden. © picture-alliance / dpa Foto: Eva Lawaetz
Die Glocken im Lager werden nach Kriegsende akribisch dokumentiert.

Die Lagerung der Glocken auf der Veddel ist derweil eine einzigartige Gelegenheit für Dokumentare: Glockensachverständige, Kirchenbehörden und behördliche Denkmalpflege erheben gemeinsam den Bestand.

"Mit Fotokamera, Karteikarten in und Füller ausgestattet kletterte Historikerin Sigrid Thurm mit einer Handvoll Mitarbeiter aus der Denkmalpflege monatelang über den Glockenfriedhof", heißt es in einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks. Schlussendlich entstehen um die 30.000 handbeschriebenen Karten mit Schwarz-Weiß-Fotos und Angaben zu Gussdatum, Gießer, Verzierungen und Inschriften. Dieses umfangreiche Glockenarchiv ist heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg untergebracht. Von den uralten Münzen, die häufig am Glockenrand zur Verzierung eingegossen wurden, entstehen außerdem Gipsabdrücke - ein Schatz für Münzkundler.

VIDEO: Das Glocken-Archiv von Hamburg (stumm) (3 Min)

Rücktransport erfolgt über das Wasserstraßennetz

Doch die Glocken sollen natürlich wieder zurück in ihre Heimatgemeinden. Mit den Erkenntnissen des Glockenbüros über die Eigentumsverhältnisse soll ein eigens eingesetzter Ausschuss mit Sitz in Hamburg genau das organisieren.

Im Januar 1947 nimmt der Ausschuss seine Arbeit auf. Zuständig für die Rückführung aus dem Hamburger Sammellager ist der Glockengießer Friedrich Wilhelm Schilling. Die erste deutsche Kirche, die im gleichen Jahr vier verschonte Glocken zurückbekommt, ist der Hamburger Michel. Einige Kirchengemeinden aus der Umgebung holen 350 Glocken selbst im Lager ab. Den deutschlandweiten Rücktransport in die Ursprungsgemeinden organisiert wiederum die Reichsbahn, überwiegend über Wasserstraßen wie die Elbe und den Mittellandkanal. Das erste Schiff verlässt am 30. April 1947 den Hamburger Hafen - mit 242 bayerischen Glocken in Richtung Würzburg. Dort entsteht eins von mehreren Zwischenlagern. Kirchengemeinden, deren Glocken zerstört wurden, erhalten aus Mangel an Bronze Glockenschrott für einen Neuguss. Die Kosten für die aufwendigen Rücktransporte betragen in der Summe 560.000 Reichsmark und nach der Währungsreform 1948 noch einmal 302.000 D-Mark.

Glocken-Rückgabe dauert bis in die 70er-Jahre

Dank der aufwendigen und langjährigen Dokumentation sowie des unermüdlichen Engagements der Rückführungsorganisation erhalten die meisten Kirchengemeinden ihre Glocken zurück. Bis in die 1970er-Jahre zieht sich das Verfahren. Von der Rückgabe ausgenommen sind die rund 1.300 Glocken aus den ehemaligen besetzen Ostgebieten. Aufgrund der hohen Kosten hatte sich die britische Militärregierung gegen eine Rückgabe entschieden. Bedürftige Gemeinden in Westdeutschland erhalten diese "Patenglocken" schließlich als Leihgabe.

Unwiederbringlich verloren bleiben die etwa 75.000 von den Nazis eingeschmolzenen Glocken - wie auch viele Kirchen und ihre Türme nach dem Bombenkrieg zerstört sind. Ersatz bieten den Gemeinden vorerst behelfsmäßige Glockentürme. Und die den Rückgeführten ein neues Zuhause:

Dort werden die Glocken auch wieder ihre gusseisernen Klöppel erhalten, dann werden sie nicht mehr stumm sein, auf dass der Wunsch Wahrheit werde: "Friede sei ihr erst Geläute!" Annelore Niejahr 1949, Zitat aus Schillers "Lied von der Glocke"

 

Weitere Informationen
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Nordmagazin | 31.01.2023 | 19:30 Uhr

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