"Hitler-Tagebücher": Die Recherchen und Hintergründe

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

von John Goetz

Das führt zu einer zweiten wesentlichen Frage: Warum versucht jemand eine Fälschung herzustellen und öffentlichkeitswirksam zu verbreiten, die den gut erforschten Tatsachen der Geschichte des Nationalsozialismus in entscheidenden Punkten widerspricht? Wer möchte Adolf Hitler von einem der schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte freisprechen?

Konrad Kujau hat offenbar nicht allein gehandelt

Darüber, wie die "Tagebücher" zustande gekommen sein könnten, kursieren die unterschiedlichsten Vermutungen. In einem Punkt herrscht Einigkeit: Es war Konrad Kujau, der die Handschrift Hitlers imitiert hat. Umstritten ist, ob er sich den Inhalt der Aufzeichnungen ohne fremde Hilfe ausgedacht hat.

Viele Anzeichen weisen darauf hin, dass Konrad Kujau nicht allein gehandelt hat. Gerd Heidemann ist davon überzeugt, dass Kujau Unterstützer hatte. Der "Stern"-Journalist Peter-Ferdinand Koch, der 1990 eine Untersuchung der damals verfügbaren Beweise in seinem Buch "Der Fund" vorgelegt hat, vermutet, dass Geheimdienstmitarbeiter der DDR auf irgendeine Weise in Kujaus Arbeit involviert gewesen sein könnten. Henri Nannen, der Gründer, langjährige Chefredakteur und bis 1983 Herausgeber des "Stern", setzte sogar eine sechsstellige Belohnung für Beweise aus, dass die DDR für die gefälschten "Tagebücher" verantwortlich sein könnte.

Bisher unbeachtete Quellen liefern jedoch wichtige Hinweise darauf, dass Kujau beim Verfassen der "Tagebücher" ganz andere Helfer gehabt haben könnte.

Recherchen der Journalistin Gitta Sereny

Bei unseren Recherchen sind wir auf die Arbeit einer wichtigen Zeitzeugin und Journalistin gestoßen: Gitta Sereny. Als sie 1938 gezwungen war, ihre Heimatstadt Wien mit ihrer Mutter zu verlassen, war sie 17 Jahre alt und wollte Schauspielerin werden. Ihre Mutter hatte einen jüdischen Wirtschaftswissenschaftler geheiratet und musste mit ihrer Tochter emigrieren. Gitta Sereny wurde Schriftstellerin und machte in London eine Karriere als Journalistin. In ihren zeithistorischen Recherchen hat sie sich immer wieder mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt. Zu ihren Veröffentlichungen zählen ein Buch über Fritz Stangl, den Kommandanten des Konzentrationslagers Treblinka, und ein Buch über Albert Speer. Unter ihren britischen Journalistenkollegen war Sereny für ihre außergewöhnlich gründlichen und genauen Recherchen bekannt.

Der konservative Verleger Rupert Murdoch, damals wie heute der mächtigste Medien-Unternehmer Großbritanniens, hatte eine enorme Summe investiert, um sich für seine Zeitungen die englischsprachigen Rechte an den "Hitler-Tagebüchern" zu sichern. Als er erfahren musste, dass es sich um Fälschungen handelte, bat er Sereny in sein Büro. Er gab ihr seine private Telefonnummer und einen Auftrag: Sie sollte herausfinden, wie es zur Veröffentlichung der falschen "Tagebücher" kommen konnte.

Schlussfolgerung: Komplott zur Unterstützung alter Nazis

Sereny brauchte sieben Monate für ihre Arbeit. Sie kam zu deutlich anderen Schlussfolgerungen als die deutschen Kommentatoren - mit Ausnahme von Erich Kuby und später Niels Kadritzke. Das Ergebnis von Serenys Recherche: Bei den "Hitler-Tagebüchern" handelte es sich nicht nur um eine kleinkriminelle Hochstaplergeschichte, sondern um einen Komplott zur Rehabilitierung Adolf Hitlers. Mit den Millionen von Gruner + Jahr wollte sich nicht nur Kujau bereichern; sie sollten auch der finanziellen Unterstützung alter Nazis für ihren Lebensabend dienen.

Nur sehr begrenzte Aufmerksamkeit erreicht

Serenys Befund wurde in der öffentlichen Debatte weithin abgelehnt. Der Schriftsteller Robert Harris unterstellte ihr in seinem 1986 erschienenen Bestseller "Selling Hitler" sogar, "Verschwörungstheorien" zu verbreiten. In Deutschland erreichte Serenys These nur eine sehr begrenzte öffentliche Aufmerksamkeit - eine NDR-Talkshow und ein Artikel in der "Bild"-Zeitung über ihr Buch "Das deutsche Trauma" (2002). Sie konnte nicht mit der unterhaltsamen Erzählung über den originellen Fälscher konkurrieren, der den aufgeblasenen Medienvertretern zeigte, was für Dummköpfe sie waren.

Heutige Recherchen bestätigen Serenys Erkenntnisse

Bei unseren Recherchen standen uns weitaus mehr Dokumente und Unterlagen unterschiedlicher Art zur Verfügung als Sereny 1983. Zu unserer Überraschung stellten wir fest, dass sich ein bemerkenswert großer Teil ihrer Rechercheergebnisse mit unseren Archivfunden deckt. Während ihre Arbeit größtenteils auf Gesprächen mit den beteiligten Personen beruht, stützt sich unsere Arbeit auf Akten, Archivrecherchen, Dokumente und Tonaufnahmen, die ihr nicht zugänglich waren. Viele ihrer Schlussfolgerungen, von denen wir zunächst angenommen hatten, dass sie sich als nicht in vollem Umfang haltbar herausstellen würden, können unsere Unterlagen nicht widerlegen. Häufig bestätigt unsere Recherche vielmehr Serenys damals allgemein abgelehnte Thesen.

Die Fragen, auf die wir immer wieder stießen, wurden dringlicher, je mehr wir wussten: Wenn Kujau nicht allein gearbeitet hat, wer waren seine Partner? Und war es wirklich ihr Ziel, dass "die Geschichte des Dritten Reiches in großen Teil neu" geschrieben und Adolf Hitler rehabilitiert wird?

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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