Konrad Kujau und seine Umdeutung Hitlers in den "Tagebüchern"

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

Im April 1983 präsentiert der "Stern" der internationalen Öffentlichkeit die vermeintlichen "Hitler-Tagebücher" als Weltsensation. Sie zeigen einen friedliebenden Herrscher in Opposition zur NS-Elite. Historikerin Heike Görtemaker ordnet die gefälschten Schriften ein.

von Heike Görtemaker, Historikerin

Das Nachleben des Nationalsozialismus

Seit Hitlers Tod im Luftschutzbunker unter der Reichskanzlei in Berlin am 30. April 1945 hatten sich um ihn und seine Freundin Eva Braun unzählige Legenden gebildet. Das lag zum einen daran, dass diejenigen, die unmittelbar Zeugen der Verbrennung der Leichen von Hitler und Braun geworden waren, später unterschiedliche Angaben zu den genauen Umständen des Doppel-Suizids machten. Zum anderen verheimlichte die Sowjetunion ihren westlichen Verbündeten und der Welt über Jahre hinweg die Tatsache, dass sowjetische Truppen die Leichen von Hitler, Eva Braun und der Familie Goebbels bereits Anfang Mai 1945 gefunden, geborgen und obduziert hatten [Fußnote 1]. Vielmehr verbreitete Stalin in einem Gespräch das Gerücht, Hitler und Bormann seien noch am Leben und versteckten sich im Ausland.

Zur Person: Heike Görtemaker

Hitler und Eva Braun hatten noch in letzter Stunde im Bunker geheiratet. Die Umstände ihres Todes, den nur wenige Getreue miterlebten, während über ihnen im kriegszerstörten Berlin ein Inferno herrschte, Granaten in Hauswände und Straßen einschlugen und die vorderste Kampflinie der sowjetischen Armee nur etwa 400 Meter entfernt war, beschäftigt bis heute die Fantasie der Menschen. Die mächtigsten Akteure des untergehenden "Dritten Reiches", darunter Hermann Göring, Heinrich Himmler, Albert Speer und Joachim von Ribbentrop, waren zehn Tage zuvor, am 20. April 1945, noch ein letztes Mal in Berlin zusammengetroffen, um ihrem "Führer" zum Geburtstag zu gratulieren. Anschließend hatten sie die von der Roten Armee fast eingeschlossene Stadt auf den wenigen noch offenen Straßen verlassen. Seit nahezu sechs Jahren befand sich das nationalsozialistische Deutschland nun schon in einem Krieg, den es 1939 selbst entfesselt hatte. Über 50 Millionen Menschen waren dem Vernichtungskrieg und der mörderischen NS-Rassenideologie zum Opfer gefallen.

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"Stern"-Reporter Gerd Heidemann präsentiert im April 1983 die vermientlichen "Hitler-Tagebücher", im Hintergrund das Titelblatt des "Stern" mit der Titelzeile "Hitlers Tagebücher entdeckt" (Montage) © NDR

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Geheimdienste versuchen sich in Analysen und Strategien

Seit Beginn des Krieges interessierten sich die alliierten Geheimdienste, vor allem der britische Auslandsgeheimdient MI6 und das amerikanische Office of Strategic Services (OSS), für Hitler und sein persönliches Umfeld. Das OSS legte eine Akte über ihn an, in die sämtliche aus Büchern und Zeitungsartikeln verfügbaren Informationen, aber auch zahlreiche Interviews eingingen, die amerikanische Agenten seit 1941 mit ehemaligen Anhängern des NS-Herrschers geführt hatten. Man hoffte, Einzelheiten über die Lebensumstände und die Psyche des deutschen Diktators zu erfahren, um dessen mögliches Verhalten im weiteren Verlauf des Krieges analysieren zu können und zu überlegen, wie mit ihm und den Mitgliedern von NSDAP, SA und SS nach einem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland zu verfahren sei. Befragt wurden unter anderem Otto Strasser, Ernst Hanfstaengl, Hermann Rauschning, Stephanie zu Hohenlohe und Kurt Lüdecke, allesamt frühere Parteigänger oder Bewunderer Hitlers, die inzwischen in den USA lebten. Bei den Gesprächen überboten sich Strasser, Rauschning und Hanfstaengl darin, Hitler als gänzlich bindungslosen, verlogenen Päderasten und Perversen darzustellen, der ein großer Schauspieler und Verführer sei. Über ihre eigene Rolle in der NS-Bewegung und ihre wahren Beziehungen zu Hitler schwiegen sie sich indessen aus [2].

Gefälschte Hitlertagebücher liegen auf einem Stapel © picture-alliance/dpa Foto: Markus Scholz
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US-Amerikaner planen rigide Entnazifizierung

Trotz dieser oft wiedersprüchlichen, irreführenden Aussagen vermeintlicher Hitler-Gegner gelang es dem OSS, sich aus der Vielzahl von Informationen ein detailliertes Bild von den Protagonisten des "Führerstaates" zu machen. Nach Kriegsende kooperierte die Behörde daher mit dem Hauptankläger der Vereinigten Staaten, Robert H. Jackson, einem Richter am Supreme Court der USA, der ein Militärtribunal zur Aburteilung von Kriegsverbrechern leiten sollte [3]. Denn die amerikanischen Nachkriegsplanungen sahen eine rigide Entnazifizierungspolitik und die sofortige Internierung aller NS-Funktionäre vor.

Hitlers "inner circle" auf der Flucht

So befanden sich schon vor der Kapitulation der Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 die meisten NS-Größen und Angehörigen von Hitlers "inner circle" auf der Flucht. Jene, die sich auf dem Obersalzberg versammelt und darauf gehofft hatten, Hitler werde doch noch vor den heranrückenden Russen aus Berlin fliehen und sich in seine "Alpenfestung" ausfliegen lassen, verließen spätestens nach dem 25. April den Berghof, als ein Bombenangriff das Haus schwer beschädigte. Gerda Bormann, Margarete Fegelein, die jüngere Schwester Eva Brauns, deren enge Freundin Herta Schneider, die Sekretärinnen Christa Schroeder und Johanna Wolf hatten hier vergeblich auf Hitler, den "Chef", wie sie ihn nannten, gewartet. Sie alle waren, wie der Fotograf Walter Frentz, der persönliche Adjutant Albert Bormann, Marineadjutant Karl-Jesko von Puttkamer, Hitlers "Leibarzt" Theodor Morell sowie Sicherheitsbeamte und Stenografen mit amtlichen Dokumenten, nach dem 20. April von Berlin zum Regierungsflughafen Reichenhall-Berchtesgaden geflogen und von dort auf den Obersalzberg gebracht worden [4].

Flugzeugabsturz spielt Kujau in die Hände

Auch zahlreiche Kuriermaschinen, die Mitarbeiter und Kisten mit Akten und Schriftstücken transportierten, verließen bis zum 24. April Berlin in Richtung München, Salzburg und Ainring, wobei eine Maschine am 21. April bei Börnersdorf in der Sächsischen Schweiz abstürzte. Bis heute sind nicht alle Ausgeflogenen bekannt, und es ist nur noch bruchstückhaft rekonstruierbar, welche Dokumente in aller Eile mitgenommen wurden. Diesen Umstand machte sich in den 1970er-Jahren der Fälscher Konrad Kujau für seine Lügengeschichte über sogenannte "Hitler-Tagebücher" zunutze, die angeblich in der abgestürzten Maschine bei Börnersdorf aufgefunden worden seien.

Diejenigen, die bis zu Hitlers Selbsttötung bei ihm in Berlin geblieben waren, wagten am Abend des 1. Mai den Ausbruch aus dem feuchten, labyrinthartigen, mit Eisentüren verschlossenen Bunker. Zu ihnen gehörten Martin Bormann, der Fahrer Erich Kempka, Flugkapitän Hans Baur, General Wilhelm Mohnke, Hitlers Diener Heinz Linge, die Sekretärinnen Gerda Daranowski und Gertraud Junge sowie weitere Mitarbeiter aus dem Kreis um Hitler, NS-Funktionäre und Beamte des Reichssicherheitsdienstes. Ausgerüstet mit falschen Ausweispapieren und Giftkapseln begaben sie sich gruppenweise auf die umkämpften Straßen, liefen durch U-Bahn-Tunnel voller Flüchtlinge und Verwundeter [5]. Bormann überlebte nicht. Baur, Mohnke und viele andere gerieten in sowjetische Gefangenschaft, aus der sie erst Mitte der 1950er-Jahre entlassen wurden.

NS-Prozesse begünstigen kollektive Legendenbildung

Die Internierung im Lager, die Nürnberger Prozesse und die sogenannten Spruchkammerverfahren vor deutschen Gerichten, eingerichtet zur "Entnazifizierung" einer ganzen Gesellschaft, führten bei den Betroffenen allerdings nicht zu Einsicht oder Schuldempfinden. Vielmehr begünstigten sie die Entstehung kollektiver Legenden. Noch in den Lagern wurden alte Kontakte wieder hergestellt. In ihrer persönlichen Existenz bedroht, entwickelten sie ähnliche Entlastungsargumente und gaben füreinander Eidesstattliche Erklärungen ab. Mit den alten Kontakten lebten zumeist auch die alten Überzeugungen fort. So waren die Überlebenden des Berghof-Kreises Teil eines informellen Netzwerks, das Ende der 1940er-Jahre entstand und bis in die 1980er-Jahre hinein existierte. Die Bedeutung, die der Nationalsozialismus und Hitler für dessen ehemalige Mitarbeiter noch Jahrzehnte nach dem Untergang des "Dritten Reiches" besaßen, kommt nicht zuletzt in der Erinnerungsliteratur zum Ausdruck. Sie diente zum einen der Selbstentlastung, die die "Vergangenheitspolitik" (Norbert Frei) der jungen Bundesrepublik mit der Beendigung der Strafverfolgung von NS-Tätern beförderte [6]. Zum anderen befriedigten die Memoiren ebenso wie Artikel in der "Regenbogenpresse" aber auch das sensationslüsterne Interesse der Öffentlichkeit an dem bis 1945 geheimgehaltenen Leben des "Führers".

Verleger liefern sich Wettrennen um ehemalige Nazi-Größen

Es verwundert daher nicht, dass die Angehörigen des inneren Kreises gefragte Gesprächspartner von Historikern und Journalisten waren. So nahm auch der "Stern"-Journalist Jochen von Lang Kontakt zu den Angehörigen Albert Speers und Baldur von Schirachs auf, während diese noch im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis saßen, um gleich nach deren Entlassung aus 20 Jahren Haft am 1. Oktober 1966 Exklusiv-Interviews mit ihnen zu führen. Unter Verlegern setzte jetzt ein regelrechtes Wettrennen um die beiden Nazi-Größen ein [7]. Jochen von Lang arbeitete anschließend mit Schirach an dessen Erinnerungen, die 1968 erschienen und - wie bei Speer - Hitler in den Mittelpunkt rückten, um sich selber als Verführter, ja Opfer des "Führers" zu stilisieren [8]. Als vermeintlich authentische Berichte aus der engsten Umgebung Hitlers verführten diese Darstellungen zu einem unkritischen Umgang mit der Wirklichkeitskonstruktion der Autoren, die alle leugneten, vom Holocaust gewusst zu haben. Albert Speer erlangte mit seiner Autobiografie, in der er Hitler zum "Mephisto" überhöhte, dem er "verfallen" gewesen sei, sogar Weltruhm und den Nimbus eines Kronzeugen des "Dritten Reiches" [9]. Im Bestreben, sich selber vom verbrecherischen NS-Staat zu distanzieren, sorgte die Mehrheit der Protagonisten damit für die Fortschreibung des dominanten Hitler-Bildes und sogar für ein Nachleben des "Führers" selbst.

Großes Interesse an Hitler und Braun in der Nachkriegszeit

Der Fälscher der "Hitler-Tagebücher" Konrad Kujau und dessen begeisterter Abnehmer, der "Stern"-Mitarbeiter Gerd Heidemann, agierten ebenfalls im Umfeld früherer Nationalsozialisten und ihrer Apologeten sowie Mitglieder von Hitlers "inner circle", darunter Hans Baur, Erich Kempka, Wilhelm Mohnke, Karl Wolff, Edda Göring und Wolf-Rüdiger Heß [10]. Ihre kriminellen Aktivitäten müssen daher in gleicher Weise als Ausdruck des Nachlebens von Hitler angesehen werden, das noch dadurch befördert wurde, dass in der Nachkriegszeit in Magazinen und Zeitungen viel über Hitler und Eva Braun berichtet wurde, weil das Interesse an diesem Thema - bis 1945 ein Tabu - groß war. Als der türkisch-amerikanische Journalist Nerin E. Gun die erste Biografie über Eva Braun veröffentlichte, erschienen Ausschnitte daraus als Fortsetzungsserie in der "Neuen Illustrierten Revue" unter dem Titel "Das durften die Deutschen nicht sehen: Geheime Fotos und Dokumente. Hitler und seine Geliebte - Eva Braun" [11]. Auch ehemalige Vertraute und Mitarbeiter Hitlers befriedigten nun, gegen entsprechendes Honorar, die Neugier der Menschen. Allerdings gab es kaum Akten. Viele Bestände waren im Krieg zerstört oder von den Siegermächten beschlagnahmt worden. Ehemalige Nationalsozialisten standen deshalb als Zeitzeugen und Lieferanten von Dokumenten hoch im Kurs. Als Kujau Mitte der 1970er-Jahre anfing, ein "Tagebuch Hitlers" zu fälschen und gleichzeitig selbst angefertigte Bilder, Gedichte und Briefe als Hitler-Originale zu verkaufen, füllte er damit offensichtlich eine Marktlücke [12].

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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