Konrad Kujau und seine Umdeutung Hitlers in den "Tagebüchern"

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

Kujaus Sicht auf Eva Braun und den "Hofstaat"

Im "Tagebuch" spielt Eva Braun als einzige der vielen Frauen aus der engsten Umgebung Hitlers eine Rolle. Hingegen fehlt jeder Hinweis auf Helene Bechstein, Winifred Wagner oder Elsa Bruckmann, die Hitler seit den frühen 1920er-Jahren finanziert und mit ihren Ehemännern einen Kreis von Mäzenen gebildet hatten, um den Österreicher als politisches Talent zu fördern. Obwohl die Beziehungen Hitlers zu diesem Kreis nach seinem Aufstieg zum Alleinherrscher nach 1933 nicht mehr eng waren, unterhielt er nach wie vor ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu Winifred Wagner, die ihn während der alljährlichen Festspiele in Bayreuth als Freund der Familie willkommen hieß und sich auch gelegentlich in München oder Berlin mit ihm traf. Hitler suchte auch Elsa Bruckmann noch ein oder zweimal im Jahr auf, der er einst den Zugang zur Münchner Gesellschaft zu verdanken gehabt hatte und die sich selber als "Kampfgefährtin" ihres Protegés Hitler betrachtete [109].

Ebenso wie die frühen Aktivistinnen im Kreis um Hitler, zu denen ebenfalls noch Ilse Heß und Magda Goebbels zählten, wird keine der Frauen aus dem "inner circle" namentlich genannt, die zum festen Bestandteil der Berghof-Gesellschaft gehörten [110]. Dies gilt für die Sekretärinnen Johanna Wolf, Christa Schroeder und, seit 1937, auch Gerda Daranowski, die Hitler ständig begleiteten und praktisch kein eigenes Privatleben hatten, ebenso wie für die Ehefrauen der Ärzte, Adjutanten und Freunde, darunter Johanna Morell, Maria von Below, Margarete Speer sowie Margarete Braun, die jüngere Schwester Eva Brauns, und die Freundinnen Herta Schneider und Marion Schönmann [111]. Ohnehin spielt Hitlers Kreis auf dem Obersalzberg - zu dem nicht die bekannten Größen des NS-Staates gehörten, sondern vor allem Eva Braun, Albert Speer, Joseph Goebbels, Karl Brandt, Martin Bormann und Nicolaus von Below mit ihren Familien - bei Kujau keine Rolle [112]. Die Tatsache, dass sich Hitler immer wieder vor großen Entscheidungen in seinen sozialen Zirkel auf den Berghof inmitten der malerischen oberbayerischen Berglandschaft zurückzog - in den Kriegsjahren 1943/44 sogar monatelang -, ist in den Aufzeichnungen des fiktiven Hitler nicht zu erkennen. Ebensowenig ist herauszulesen, dass der "Führer" dort von einer Ersatzfamilie umgeben war, die ihn als politisches Genie bewunderte und in seinem Tun bestätigte und die er wiederum mit Karrieren, Geld und Geschenken verwöhnte [113].

Der NS-Diktator und das Narrativ vom einsamen Wolf

Tatsächlich folgt Kujaus Hitler-Narrativ weitgehend dem in den 1970er-Jahren und auch Jahrzehnte später noch verbreiteten Bild vom "Führer", der einsam und ohne Privatleben einzig seiner politischen Mission verpflichtet gewesen sei. Diese Legende, einst von der NS-Propaganda in die Welt gesetzt, um Hitlers Selbstdarstellung als "Erlöser" des deutschen Volkes Glaubwürdigkeit zu verleihen, führte die in den 1950er-Jahren aufkommende Erinnerungsliteratur fort, in der frühere politische Mitstreiter Hitlers sich von den Menschheitsverbrechen des NS-Regimes zu distanzieren suchten. So traten der ehemalige "Leibfotograf" Heinrich Hoffmann und der einstige Reichspressechef Otto Dietrich, die vor 1945 ihre Nähe zum "Führer" gar nicht genug hatten herausstellen können, in ihren Memoiren lediglich als einfluss- und kenntnislose Dabeigewesene auf. Albert Speer, Ernst Hanfstaengl und Baldur von Schirach taten so, als seien sie von Hitler manipuliert und betrogen worden. Die Vorstellung eines von der NSDAP okkupierten Deutschen Reiches mit manipulierten Massen und Institutionen, gelenkt von einem "Führer", der die "Taktik des Ganzen" bestimmte, beherrschte aber auch die frühen Forschungen zu den Ursachen und Strukturen des Nationalsozialismus [114]. Dabei galten die Menschen in Hitlers unmittelbarer Umgebung bis auf wenige Ausnahmen als historisch bedeutungslos. Sie wurden lediglich als Randfiguren eines übermächtigen Diktators wahrgenommen. Joachim Fest behauptete in seiner 1973 veröffentlichten und für die damalige Zeit bahnbrechenden Hitler-Biografie sogar, Hitler sei sozial verarmt und isoliert gewesen, um ihn herum habe es einen "menschenleere(n) Raum" gegeben [115].

So blickte Fest in seinem mehr als 1.000 Seiten umfassenden Werk auf eine "Unperson", deren "individueller Umriß" für ihn "blaß" blieb. Eva Braun charakterisierte er demgegenüber als "einfaches Mädchen" mit "anspruchslosen Träumen und Gedanken", die von "Liebe, Mode, Film und Klatsch" beherrscht gewesen seien [116]. Zuvor hatte schon Helmut Heiber, ein Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München, dem attestiert wurde, ein "Meister kritisch-biographischer Forschung" und "Kritiker aller billigen Moralisierung und Monumentalisierung" zu sein, in seiner 1960 veröffentlichten Hitler-Biografie über Eva Braun geschrieben, sie habe mit großer Wahrscheinlichkeit "Hitler weniger als Frau etwas bedeutet(e)", sondern sei von ihm "mehr als eine Art besseres Haustier gehalten" worden [117]. Und selbst Ian Kershaw, einer der renommiertesten Hitler-Forscher, behauptete noch vierzig Jahre später, Eva Braun habe auf dem Obersalzberg - ebenso wie alle anderen anwesenden Frauen - "hauptsächlich als Dekoration" gedient. Es lasse sich schwerlich sagen, urteilte Kershaw, welche "emotionale Befriedigung" Hitler aus seiner Beziehung zu Eva Braun gezogen habe, aber viel könne es nicht gewesen sein [118].

Die Rolle von Eva Braun: Politisch uninteressierte Blondine?

So blieb Eva Braun in Hitler-Biografien stets eine Randfigur. Sie galt als historisch bedeutungslos, als "sehr blasser Schatten des Führers" [119], wie der Historiker Werner Maser es formulierte, ja als "Enttäuschung der Geschichte" [120], wie der britische Professor Hugh Trevor-Roper 1947 Albert Speer zitierte, da sie offenbar bei den politischen Entscheidungen Hitlers keine Rolle gespielt hatte. Ganz allgemein blendeten biografische Darstellungen der NS-Elite die Ehefrauen zumeist völlig aus, auch wenn diese, wie Magda Goebbels, Emmy Göring oder Ilse Heß, das Regime in der Öffentlichkeit repräsentiert und damit eine öffentliche Funktion wahrgenommen hatten. Eva Braun, die als Nicht-Ehefrau öffentlich niemals in Erscheinung treten durfte und noch nicht einmal Mitglied der NSDAP war, galt weithin als eine etwas dümmliche Blondine, der das "Unglück" widerfahren sei, sich in ein "Monster" verliebt zu haben [121]. Solchen Interpretationen leistete, wie beim "Führermythos", die Erinnerungsliteratur Vorschub, in der Ehefrauen, Freundinnen oder weibliche Angehörige nur am Rande, als passiv Dabeigewesene erwähnt wurden.

Über Eva Braun verbreiteten frühere Mitarbeiter und politische Mitstreiter Hitlers, sie sei oberflächlich, politisch uninteressiert, einflusslos und eigentlich auch für Hitler nicht von großer Bedeutung gewesen. Darüber hinaus vermittelten Frauen aus Hitlers früherem "inner circle" den Eindruck, als hätten sie sich in zwölf Jahren Nazi-Herrschaft ausschließlich um private Angelegenheiten gekümmert, seien, so Ilse Heß in einem Fernseh-Interview, als Frau stets passiv geblieben. Die meisten Frauen des Obersalzberg-Kreises schwiegen sich indessen nach Kriegsende über ihre Beziehung zu Hitler und Eva Braun aus. Und da weder von Eva Braun noch von Hitler Aufzeichnungen existieren, die Aufschluss über das Wesen ihrer Beziehung geben könnten, verbreiteten ehemalige Obersalzberg-Gäste ganz unterschiedliche Meinungen darüber, ob es sich um ein Liebesverhältnis oder lediglich um ein "Scheinverhältnis" gehandelt habe. Albert Speer, der ein häufiger Gast in Hitlers Berghof gewesen war und eine zentrale Rolle in dessen "Hofstaat" gespielt hatte, schilderte Hitler in seinen 1969 erschienenen Erinnerungen, die zu einem Welt-Bestseller wurden, als unzugänglichen, gefühlskalten Menschen, der sich seiner Freundin gegenüber rücksichtslos, misstrauisch und zynisch verhalten habe [122]. Darüber hinaus erklärte Speer, Eva Braun sei politisch gänzlich uninteressiert gewesen und habe kaum je versucht, "Hitler zu beeinflussen" [123].

Kujau macht Eva Braun zur konstanten Größe

Entgegen der in der Memoiren-Literatur vorherrschenden Darstellung von Eva Braun als einfluss- und bedeutungslose, politisch uninteressierte Frau ist sie in den gefälschten Tagebüchern indessen eine konstante Größe, die in jedem Band mehrfach erwähnt wird. In der Welt des von Kujau erfundenen Hitler fehlen, abgesehen von Eva Braun, sämtliche Angehörige seines engsten persönlichen Kreises.

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Nur sie allein erscheint als Hitlers einzige private Bezugsperson. Allerdings bleiben ihr Leben, ihre Persönlichkeit und die Art ihrer Beziehung zu Hitler nebulös. Ihre Eltern, Schwestern, ihr Freundeskreis, ihre Arbeit als Fotografin für Heinrich Hoffmann, ihre vielen Reisen mit Anni Brandt, Margarete Speer und ihrer Familie finden nicht statt. Doch unter"„Persönliches" oder "Privates" entwirft Kujau mittels seines fiktiven Hitler das Bild einer engen Bindung, wobei der "Führer" als ein fürsorglicher, liebevoller Lebensgefährte hervortritt, etwa wenn er schreibt, auf Wunsch Eva Brauns seien "einige Umbauten auf dem Berghof" vorgenommen worden [124].

Besorgnis offenbart auch die im "Tagebuch" unter dem 30. April 1934 festgehaltene Bemerkung, er wolle "nicht noch einmal den 1. November 32 miterleben", den Tag ihres Suizidversuchs [125]. An dieser Stelle wird deutlich, dass Kujau die erste, 1968 von dem türkisch-amerikanischen Journalisten Nerin Emrullah Gun veröffentlichte Eva-Braun-Biografie für seine Fälschung benutzt hat. Zwar haben über den Suizidversuch in der Nachkriegszeit sowohl Angehörige der Familie Braun als auch Zeitzeugen aus dem engsten Umfeld Hitlers berichtet. Über den Tatzeitpunkt gab es jedoch unterschiedliche Aussagen. Während Heinrich Hoffmann von einem "Sommermorgen" 1932 sprach und sein Schwiegersohn Baldur von Schirach das Ereignis auf die Nacht vom 10. auf den 11. August datierte [126], vermerkte Nerin Gun unter Berufung auf Ilse Braun, die ältere Schwester Eva Brauns, dass sich der Vorfall in der Nacht vom 1. auf den 2. November zugetragen habe [127]. Kujau übernahm diese Datierung Ilse Brauns, die ausschließlich bei Nerin Gun zu finden ist, der Mitte der 1960er-Jahre die Familie Braun, aber auch Herta Schneider und weitere frühere Mitglieder des engsten Kreises um Hitler befragt hatte. Auch die Bemerkung des angeblichen Hitler im "Tagebuch", er habe Eva Braun "einige Bücher ihres Lieblingsschriftstellers O. Wilde schicken lassen", geht auf die Biografie von Nerin Gun zurück [128].

Kujaus Braun wird zur politischen Kämpferin und Ratgeberin

Bemerkenswert ist, dass die von Kujau entworfene Figur der Eva Braun nur selten die bekannten Klischees von der unpolitischen Blondine bedient, die eifersüchtig auf andere Frauen der NS-Prominenz gewesen sei. Auch schlüpfrige Details aus dem Intimleben des "Führers", wie sie der Regisseur und Schriftsteller Luis Trenker in seinem 1948 veröffentlichten, ebenfalls gefälschten 96-seitigen "Tagebuch" der Eva Braun darbot, sind bei Kujau nicht zu finden. Vielmehr kämpft Eva Braun oftmals an der Seite Hitlers gegen verbrecherische Parteigenossen oder illoyale, faule Generäle. So vermutet der fiktive Hitler, dass Eva Braun dahinter stecke, als Heinrich Hoffmann vor den Bücherverbrennungen im Mai 1933 den Wunsch äußerte, einige verfemte und verfolgte Schriftsteller "von Goebbels Liste streichen" zu lassen [129]. Und es ist Eva Braun, die Hitler berichtet, sie habe erfahren, "dass Himmler polnische Kinder in Lager" einsperre, woraufhin Kujaus Hitler erklärt, er wolle dafür "Himmler zur Verantwortung" ziehen und nun auch "in diesen Dingen" mehr "auf Eva hören" [130]. Im "Tagebuch" erscheint Eva Braun somit als loyale, psychologische Stütze, ohne die Hitler nicht funktionieren kann: "Nur ein Mensch hält mich noch aufrecht, Eva." [131] Die Figur der Eva Braun ist für Kujau mithin ein Werkzeug, mit dessen Hilfe der Fälscher seinen Hitler - seinen "Helden" - nahbar, menschlich und redlich erscheinen lassen kann.

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Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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