Helmscherode: Kriegsverbrecher Keitel lange als "Opfer" gewürdigt
In Helmscherode in Südniedersachsen wurde bis vor Kurzem noch des Kriegsverbrechers Wilhelm Keitel gedacht. Das wurde durch einen Zufall bekannt. Inzwischen informieren Tafeln über die Hintergründe.
Als Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945 bedingungslos kapituliert, steht auf deutscher Seite ein Mann im Mittelpunkt, der aus dem heutigen Niedersachsen stammt: Wilhelm Bodewin Johann Gustav Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Keitel stammt aus Helmscherode, einem kleinen Ortsteil von Bad Gandersheim in Südniedersachsen. Dort wurde er am 22. September 1882 geboren. In einer kleinen Kapelle mitten im Ort wurde des ehemaligen Generalfeldmarschalls noch bis vor Kurzem ehrenhaft gedacht. Und niemand hat sich daran gestört. Erst durch einen Zufall wird die Öffentlichkeit auf das Gedenken an einen der Hauptkriegsverbrecher aufmerksam.
Das Dorf Helmscherode im Landkreis Northeim ist idyllisch und friedlich, 140 Einwohner leben dort. Ein Dorf wie viele andere in Niedersachsen. In der Ortsmitte befindet sich die kleine Kapelle. Erst ein genauerer Blick offenbart: Dieser Ort, diese Kapelle, hat eine ganz besondere, besonders dunkle Geschichte, die bis vor wenigen Jahren kaum jemand kannte.
Wandergruppe macht 2009 eine Entdeckung
Das gilt auch für Harald Benstem aus Hildesheim, bis er im Juli 2009 mit einer Wandergruppe durch Helmscherode kommt - und eine Entdeckung macht. "Ich bin fassungslos gewesen, ich habe das nicht glauben können: Da stand ein Stein [...] mit einem offenen Hitler-Zitat, kurzer Text, unterschrieben sozusagen von Generalfeldmarschall Keitel", sagt Benstem dem NDR 2025. Den Gedenkstein hatte Keitel am 2. August 1939 in Erinnerung an zehn Helmscheröder Gefallene des Ersten Weltkriegs vor der Kapelle einweihen lassen.
Heute erläutert eine Info-Tafel den Hintergrund: "Durch das Motto 'Jeder muß tun, was Allen nützt" (Adolf Hitler) und den Hinweis, dass die Gefallenen "im Glauben an Deutschlands Größe und Zukunft" gestorben seien, wurde ihre Ehrung an die nationalsozialistische Vorstellung einer bedingungslosen Opferbereitschaft für die deutsche 'Volksgemeinschaft' geknüpft", heißt es. Der Stein befindet sich inzwischen im Landesmuseum Braunschweig, ein anderer zum Gedenken an die "Opfer des Kriegs 1914-1918" steht nun an seiner Stelle.
Keitel verlangte ein rücksichtsloses Vorgehen gegen Juden
Als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht hat Wilhelm Keitel im Zweiten Weltkrieg den verbrecherischen Angriffskrieg Nazi-Deutschlands geplant und organisiert. Dieser Kampf, so befiehlt Keitel der Truppe damals, verlange ein rücksichtsloses Vorgehen gegen Juden, in einem weiteren Befehl auch gegen Frauen und Kinder. 1946 wird Wilhelm Keitel von den Alliierten als Hauptkriegsverbrecher verurteilt und am 16. Oktober desselben Jahres hingerichtet.
NDR Retro präsentiert dazu diese beiden Hörfunkstücke aus den Nürnberger Prozessen von 1946:
Keitel auf Farbfotos im Gottesdienst präsent
Keitel hat auf einem Gut in Helmscherode gelebt, die Kapelle gehört seiner Familie bis 1982. Dann verkauft sie sie an die Kirchengemeinde. Bis Harald Benstem dort 2009 zufällig vorbeiwandert, ist Wilhelm Keitel noch immer sehr präsent. "Wir sind natürlich sehr schnell auf diese Gedenktafel gestoßen, mit dem letzten Eintrag - Keitel, Wilhelm Keitel, als Opfer des Weltkrieges. Das war genauso eine fassungslose Überraschung", sagt Benstem. Es habe dort 2009 auch eine Reihe Farbfotos von Wilhelm Keitel in Generalsuniform mit allen Orden gegeben. "Der hat also immer hier den Gottesdiensten zugeguckt von den Fotos. Jetzt ist ja nur noch ein Ölgemälde da", erklärt Benstem 2025.
13 Jahre vergehen
Auf der Rückseite der Kapelle hat Harald Benstem außerdem eine bronzene Schale gefunden. Sie trug die ehrende Inschrift für "Deutschlands letzten Helden - den der Feind gerichtet hat mit rächender Hand". Infotafeln, historische Einordnungen - im Juli 2009 gibt es dort nichts dergleichen. Harald Benstem schreibt an die Evangelische Landeskirche Braunschweig. "Und ich habe dann relativ schnell damals Antwort bekommen, dass man das betroffen zur Kenntnis genommen hätte und dass es aber gar nicht bekannt sei." Nach diesem ersten Kontakt hakt Harald Benstem jahrelang immer wieder bei der Kirche nach. Doch erst 2022 - 13 Jahre später - werden in und um die Kapelle Info-Tafeln aufgestellt.
So heißt es zum Beispiel als Erläuterung zu den Versen auf der bronzenen Schale: "Sie stellen das Nürnberger Urteil als Rache der Alliierten und die hingerichteten Repräsentanten des NS-Regimes als Helden und Märtyrer, denen man das Grab verweigerte, dar. Das hohe Maß ihrer Verantwortlichkeit für die Planung und Durchführung des Angriffskriegs, für Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit und für den Holocaust wird ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass zahllose Opfer dieser Verbrechen gleichermaßen eingeäschert wurden oder unbekannt in namenlosen Massengräbern ruhen."
Ungern in Verbindung zur NS-Vergangenheit
Warum hat diese Aufarbeitung so lange gedauert? Und warum musste erst ein Wanderer des Weges kommen, um die Kirche auf dieses dunkle Gedenken aufmerksam zu machen? Vom örtlichen Kirchenvorstand will darüber niemand sprechen. Die Evangelische Landeskirche Braunschweig hat die Angelegenheit übernommen. Pressesprecher Michael Strauß sagt dem NDR: "Man muss sich eben immer irgendwie vor Augen halten, dass Menschen, die an einem solchen besonderen Ort wohnen, natürlich auch in besonderer Weise sensibel sind. Und natürlich eventuell sich nicht nachsagen wollen, dass sie hier in irgendeiner Weise in Verbindung mit NS-Vergangenheit stehen."
Nachträgliche Kommentierung positiv
Harald Benstems Engagement hat sich gelohnt. Aus der Kapelle Helmscherode, aus dem unkommentierten Gedenken an Wilhelm Keitel, einen Hauptkriegsverbrecher, ist ein Ort des Erinnerns an die Schrecken des Nationalsozialismus geworden. "Es hat sich sehr viel zum Positiven verändert durch diese Kommentierung. Wir haben ja doch Tendenzen, die vielleicht in diese Richtung ausarten und da ist ein kritischer Rückblick mit Sicherheit hilfreich", meint Harald Benstem mit Blick auf die politische Lage in Deutschland.
