Stand: 29.08.2020 06:00 Uhr

Friedrichstadt ist mehr als nur 400 Jahre Stadtgeschichte

Bilder von früher im Vergleich mit Fotos von heute - möglichst aufgenommen von derselben Position: Das ist das zentrale Element der Serie "Schleswig-Holstein früher und heute". So wollen wir den Wandel der Städte im nördlichsten Bundesland dokumentieren. Ein interaktiver Foto-Vergleich macht das besonders deutlich.

von Sven Jachmann

Sechs Jahre wohnen Doreen und Jan Stümpel mittlerweile in Friedrichstadt im Fünfgiebelhaus. "Mitten auf der Straße erhielten wir damals die Zusage von der Bürgermeisterin persönlich", erinnert sie sich noch an den Moment der Entscheidung. Das historische Gebäude gehört der Stadt. Die Stadtvertreter wollten, dass es ein offenes Haus bleibt. Sie entschieden schließlich, dass der Keramikladen der Stümpels als Geschäft gut in das rund 400 Jahre alte Gebäude passt. Stadtgründer Herzog Friedrich III. von Schleswig-Gottorf hatte das Fünfgiebelhaus am Fürstenburgwall bauen lassen.

Eine historische Aufnahme von der Häuserreihe auf dem Marktplatz in Friedrichstadt. © Stadtarchiv Friedrichstadt Häuser am Marktplatz in Friedrichstadt. © NDR Foto: Sven Jachmann

Die Häuser am Marktplatz von Friedrichstadt bilden die größte zusammenhängende Reihe mit Gebäuden aus der Gründerzeit. Charakteristisch sind die Treppengiebel der Häuser.

Keramik und Bücher: Der Mix macht’s

Das Haus veränderte sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr. Das Haus bekam eine neue Fassade, drei Wohnungen wurden rein- und wieder rausgebaut. Dann war es ein Museum, danach eine Galerie. Nun sind hier Bücher und Keramiken zu Hause. Doreen Stümpel macht regelmäßig Führungen durch ihre Werkstatt. Außerdem wohnt die Familie in dem Haus. Kaum eingezogen, erfuhren sie, dass der einzige Buchhändler der Stadt altersbedingt seinen Buchladen schließt.

Eine Kleinstadt ohne Bücher? Das ging für Doreen Stümpel überhaupt nicht. "Wir hatten gesagt, dann machen wir das selbst." Der Buchhändler unterstützte sie dabei. Es ging auf das Weihnachtsgeschäft zu. "Und die Kunden in der Stadt sollten bloß nicht auf die Idee kommen, woanders ihre Bücher zu kaufen", lacht sie. Ihr Mann ist Bücherliebhaber und kennt sich in der Literatur aus. "Da haben wir es einfach gewagt. Die Räume geben es ja her."

Eine historische Aufnahme auf die Remonstrantenkirche in Friedrichstadt. © Stadtarchiv Friedrichstadt Blick auf die Remonstrantenkirche in Friedrichstadt. © NDR Foto: Sven Jachmann

Blick von der Ostseite der Straße "Am Markt" in die Prinzesstraße. Hinten links die Remonstrantenkirche. Remonstranten bildeten in Friedrichstadt eine niederländische Religionsgemeinschaft. Es waren überwiegend wohlhabende Händler. Sie haben die Kirche 1624 gebaut. 1850 wurde sie zerstört und bis 1854 wieder aufgebaut.

Männer schauen Bücher, Frauen Keramik

Die Aufteilung ist klar: Doreen Stümpel sitzt im Obergeschoss an der Drehscheibe und bearbeitet Ton. Ihr Mann verkauft im Erdgeschoss Bücher. "Seitdem kommen mehr Männer. Die gucken Bücher und die Frauen Keramik." Sehr beliebt bei den Kunden sind ihre Wunschbecher. Das sind Becher auf denen Glück, Liebe oder Freude stehen. "Ich komme mit der Produktion kaum hinterher", erzählt sie. Das liege an den vielen Touristen, die dieses Jahr in die Stadt gekommen sind. Mehr als je zuvor. "Wegen Corona machen viele hier Urlaub. Wenn nur ein Teil von denen wiederkommt, das wäre schon toll", hofft sie.

Eine historische Aufnahme des 1621 erbauten Fünfgiebelhauses in Friedrichstadt. © Stadtarchiv Friedrichstadt Eine Aufnahme des 1621 erbauten Fünfgiebelhauses in Friedrichstadt. © NDR Foto: Sven Jachmann

Blick auf das Fünfgiebelhaus (weiß) - eins der berühmtesten Gebäude der Stadt. Stadtgründer Herzog Friedrich III von Schleswig-Gottorf hatte es 1621 bauen lassen. Heute das Zuhause von Doreen Stümpel und ihrer Familie. Sie betreibt hier ihre Keramikwerkstatt, ihr Mann führt hier einen Buchhandel.

Von Rügen über Greifswald nach Friedrichstadt

Doreen Stümpel kommt aus Rügen und hat dort Kerammalerin gelernt. Als sie kurz vor dem Abitur im Schulbus sitzt, hört sie im Radio, wie eine Frau eine gute Malerin für eine Ausbildung zur Kerammalerin sucht. Noch am selben Tag hat die Abiturientin ihre Mappe mit selbst gemalten Bildern bei der Frau abgegeben und bekam den Ausbildungsplatz. "Für 180 Mark im Monat. Nebenbei malte ich im Auftrag Bilder. So kam ich finanziell gut hin." Nach der Ausbildung hing Doreen Stümpel ein Kunst- und Philosophiestudium in Greifswald dran. Lernte dort ihren heutigen Mann Jan kennen. Beide machten sich in Greifswald mit einem Keramikladen selbständig.

Eine historische Aufnahme von dem 1624 erbauten Doppelgiebelhaus in Friedrichstadt. © Stadtarchiv Friedrichstadt Eine Aufnahme von dem 1624 erbauten Doppelgiebelhaus in Friedrichstadt. © NDR Foto: Sven Jachmann

Das Doppelgiebelhaus in der Prinzenstraße wurde 1624 gebaut - und ist somit das älteste Geschäftshaus der Stadt. Weil die Fassade einsturzgefährdet war und sich zur Straße neigte, musste es in den 1980er-Jahren restauriert werden. Heute werden hier Stoffe verkauft, aber auch Taschen, Kleidung und Accessoires.

Den Rufen der Großeltern gefolgt

Als aber das erste Kind unterwegs war, folgte der Wendepunkt in ihrem Leben, der sie nach Friedrichstadt bringen sollte. "Wir brauchten eine größere Wohnung. Aber derartige Wohnungen waren damals schon in Greifswald zu teuer", erklärt sie. Sie schauten sich lange um, sie wollten unbedingt im Norden bleiben. Da meldeten sich die Großeltern aus Seeth bei Friedrichstadt. Sie hätten genug Platz und könnten auf das Kind mit aufpassen.

Plötzlich geht da was

So kam die Familie 2007 zum ersten Mal nach Friedrichstadt. "Wir dachten spontan: da einen Laden, das wäre ja toll. Wir waren sicher, dass das hier funktionieren würde - so hübsch, wie das hier ist", erzählt Doreen Stümpel. Ihren ersten Laden bezogen sie Am Fürstenburgwall. Nebenan war eine Galerie. Mit den Besitzern freundeten sie sich an. "Die saßen abends oft vor ihrer Haustür. Da erzählten sie uns plötzlich, dass sie ausziehen werden und fragten uns, ob wir nicht in das Haus wollten", erinnert sich Doreen Stümpel. Sie zogen es zunächst nicht wirklich ernsthaft in Erwägung. Bis die Galeristen auszogen und die Bürgermeisterin auf sie zu kam.

Eine historische Aufnahme mit Blick auf die Remonstrantenkirche und das Frauenhaus in Friedrichstadt. © Stadtarchiv Friedrichstadt Eine Aufnahme mit Blick auf den Turm der Remonstrantenkirche in Friedrichstadt. © NDR Foto: Sven Jachmann

Blick in die Prinzesstraße - vor rund 100 Jahren und heute. Rechts ragt der Turm der Remonstrantenkirche über die Dächer. Seit 2006 befindet sich in dem rotgeklinkerten Dreigiebelhaus (r.) eine Schmuckwerkstatt.

Heimat für Individualisten

In den vergangenen 13 Jahren hätte sich Friedrichstadt sehr positiv entwickelt. "Die Stadt wird immer schöner", schwärmt sie. Das läge auch an den Restaurants, die immer dichter ans Wasser ziehen. Heute gebe es mehr Plätze am Wasser als früher. Außerdem wurden viele Häuser saniert. Friedrichstadt wird auch immer mehr zur Heimat für Individualisten, Musiker und Künstler. Auch für Doreen und Jan Stümpel und ihren drei Kindern, die inzwischen 15, 13 und 11 Jahre alt sind, ist der Ort zur Heimat geworden.

Hausmarken - eine große Tradition in der Stadt

Die gebürtige Rüganerin fertigt mittlerweile nicht nur Keramiken und Wunschbecher. Inzwischen gehören auch Hausmarken zu ihrem Repertoire. Hausmarken befinden sich meistens unter dem Giebel der Häuser. Das sind kleine Bilder. Sie ersetzten früher die Hausnummern. Die Hausmarken haben eine große Tradition in der Stadt, sind teilweise über 100 Jahre alt und heute noch oder wieder an den Häusern zu sehen. Sie stehen für den Beruf des Bewohners oder für eine Leidenschaft. Acht dieser Hauswand-Bilder hat sie bereits gefertigt. Darunter ein Schild mit einem Sextanten für einen Seemann.

Alles richtig gemacht

"Ich verewige mich in der Stadt, das ist toll." Momentan arbeitet Doreen Stümpel an einem Elch, weil die Besitzer totale Schwedenfans sind. Vor wenigen Wochen hatte sie überraschend Besuch bekommen. Von der Frau damals aus dem Radio, ihre Ausbilderin auf Rügen. "Sie war schon stolz, das hier zu sehen. 'Das hast Du genau richtig gemacht', hat sie gesagt."

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | 31.08.2020 | 21:40 Uhr

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