Thomas Manns erste BBC-Rede
Im Oktober 1940 griff Thomas Mann in den Zweiten Weltkrieg ein. Aus seinem amerikanischen Exil begann der Literaturnobelpreisträger seine berühmten Radioansprachen über die britische BBC.
Es rauscht und piept. Aber die Botschaft ist klar und deutlich. "Die Hölle, Deutsche, kam über Euch, als diese Führer über Euch kamen. Zur Hölle mit Ihnen und all Ihren Spießgesellen." Es ist die Stimme Thomas Manns aus der Freiheit. Emotional und pathetisch - so streitet er mit den Nazis. Es waren etwa 60 kurze Reden, die immer mit derselben Anrede begannen. "Deutsche Hörer!". Dem bellenden, keifenden Diktator antwortet im Radio die Stimme der Vernunft. Für Thomas Mann sind die Nazis "Verderber des Volks" und "die Diktatur des Gesindels". Hitler nennt er einen "blutigen Komödianten".
Doch anfangs läuft es für Hitler gut. Der Blitzkrieg beschert den Deutschen Erfolge im Osten und im Westen. Thomas Mann hat es da schwer. "Werdet ihr mir glauben, wenn ich Euch versichere, dass diese Siege - sofern man sie so nennen kann - genauso so hohl, sinn- und hoffnungslos sind wie die früheren. Es gibt keinen Nazi-Sieg. Alles, was so aussieht, ist blutiger Unsinn, ist im Voraus annulliert."
Mann suggeriert Kollektivschuld der Deutschen
Thomas Mann, der nach der Machtübernahme der Nazis zuerst nach Frankreich, in die Schweiz und dann in die USA ging, konfrontiert die Deutschen mit Kriegsverbrechen, mit Judenverfolgung, Menschenexperimenten und Euthanasie. "Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst Ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte heranwachsenden Hass, der eines Tages über Euren Köpfen zusammenschlagen muss." Manchmal suggeriert Mann eine Kollektivschuld der Deutschen, was nach dem Krieg für heftige Diskussionen sorgen wird. Immer wieder nimmt er aber auch Bezug auf aktuelle Entwicklungen - wie im April 1942. Kurz zuvor war Lübeck angegriffen worden - als Vergeltung für die Zerstörung Coventrys. "Das geht mich an", sagt Mann. "Es ist meine Vaterstadt. Und lieb ist es mir nicht zu denken, dass die Marienkirche oder das historische Rathaus sollten Schaden genommen haben. Aber ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss."
Die Texte der ersten vier Sendungen wurden noch von einem Sprecher in London verlesen. Der Wirkung wegen sollte Mann aber selbst zu hören sein. Schallplatten mit seiner Stimme wurden aufwändig mit dem Flugzeug nach New York geschafft, von dort per Telefon nach London überspielt und dann von der BBC ausgestrahlt. Das Pausensignal der BBC klingt wie ein bedrohliches Klopfen an die Tür der Deutschen: Es ist das Morsezeichen für V wie Victory - Sieg.
"Die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit"
Es war eine gefährliche Botschaft. Das Abhören von Feindsendern war strengstens verboten - es wurden sogar Todesstrafen verhängt. Und doch wurde Thomas Mann gehört. Das belegten chiffrierte Rückmeldungen aus Deutschland. Auch die Studenten der "Weißen Rose" Hans Scholl und Alexander Schmorell lauschten Thomas Manns Worten. Manns Texte beeinflussten die Flugblätter und Handlungen der "Weißen Rose". Seine Reden waren für manche Deutsche eine moralische Stütze. "Einst sammelte ein Herder liebevoll die Volkslieder der Nation. Das war Deutschland in seiner Güte und Größe. Heute weiß es nichts als Völker- und Massenmord", erinnerte Mann an das friedliche Potenzial Deutschlands. Die letzte Radioansprache erfolgte am 10. Mai 1945: Der Krieg in Europa ist zu Ende. Bei Thomas Mann mischt sich in die Freude über den Sieg auch Trauer. Wie bitter ist es, sagt er, wenn der Jubel der Welt der Niederlage, der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gilt! "Ich sage, es ist trotz allem eine große Stunde: Die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit."
