Dorfeingang von Maczkow
Dorfeingang von Maczkow
Dorfeingang von Maczkow
AUDIO: 20. Mai 1945: Haren an der Ems wird polnisch (3 Min)

Kriegsende im Emsland: Drei Jahre lang ist Haren das polnische Maczków

Stand: 11.09.2023 00:00 Uhr

Im Mai 1945 befehlen die britischen Befehlshaber den Einwohner von Haren, sofort die Stadt zu verlassen. Soldaten und Vertriebene aus Polen sollen dort leben. Haren wird zum polnischen Maczków. Erst am 10. September 1948 dürfen die Einheimischen zurückkehren.

20. Mai 1945: Seit knapp zwei Wochen ist der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell beendet. Auch in der Kleinstadt Haren im Emsland, die auf eine Jahrhunderte alte Schifffahrtstradition zurückblicken kann, gehen die Menschen davon aus, dass sie nun zupackend in die Zukunft steuern können. Doch an diesem Pfingstsonntag soll ihr Leben schlagartig noch einmal eine neue Wendung nehmen: Auf Befehl der britischen Militärregierung vom 19. Mai muss die deutsche Bevölkerung von Haren innerhalb von 48 Stunden die Stadt verlassen. Die Menschen sollen Platz machen für polnische "Displaced Persons", die wegen mangelnder Transportkapazitäten und auch wegen der politischen Lage in Polen nicht in ihre Heimat zurückkehren können oder wollen.

Nach dem Krieg erneut ins Provisorium

Der von den Besatzern wieder eingesetzte Harener Bürgermeister Hermann Wichers hat die schwere Aufgabe, den Befehl der Alliierten an jenem 20. Mai zu verkünden:

Zur vorübergehenden Unterbringung von Ausländern ist Haren zu räumen. Aufnahmegebiet sind die umliegenden Gemeinden. Mitgenommen werden dürfen Wertsachen, Kleidung und Wäsche - aber keine Möbel, Tassen und Teller. Hermann Wichers am 20. Mai 1945

Knapp 1.000 Familien - rund 5.000 Menschen - müssen damit von heute auf morgen aus ihren insgesamt 514 Häusern raus und versuchen, bei Verwandten und Freunden in den umliegenden Dörfern unterzukommen, richten sich in Notunterkünften ein. Das meiste von ihrem Hab und Gut müssen sie zurücklassen.

Maczków wird zur polnischen Enklave an der Ems

Polnische Soldaten und Zivilisten 1945 im emsländischen Haren, das für drei Jahre in Maczków umbenannt wurde. © Stadt Haren
Soldaten der polnischen Exilarmee, Vertriebene und Befreite aus Zwangslagern suchen nach Kriegsende Zuflucht in Haren.

Am 21. Mai ist die Evakuierung abgeschlossen, die ersten polnischen Familien treffen ein: Soldaten der polnischen Armee, aber auch Vertriebene und Befreite aus den Arbeitslagern der emsländischen Umgebung. Zahlreiche polnische Exilanten kommen in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten nach Haren. Etwa 5.000 Polen finden dort eine - vorübergehende - Bleibe. Die Stadt wird am 24. Juni in Maczków umbenannt -  zu Ehren des Generals der 1. Polnischen Panzerdivision, Stanislaw Maczek. Haren wird zu einer komplett polnischen Stadt - und damit zum Zentrum eines polnischen Besatzungsgebiets im Emsland. Ein Kuriosum der Geschichte, über das sogar die ausländische Presse berichtet:

Haren ist die Hauptstadt von einem kleinen Polen, um ein schwieriges Problem zu lösen. Das Problem von polnischen Zwangsarbeitern, die befreit wurden, und die entweder nicht nach Hause können oder nicht nach Hause wollen. Die Polen haben bereits ihre eigene Verwaltung gewählt. Sie pflegen die Pflanzungen der Deutschen und beginnen bereits mit der ersten Ernte. "Daily Mail", 1945

Schulen, Krankenhaus, Theater und Kino

Junge Polen wie der Künstler Joseph Scheiner hatten jahrelang in Konzentrationslagern gelitten. In einem Brief schreibt er rückblickend über seine Zeit im Emsland: "Zum ersten Mal nach sechs Jahren wohnte ich in einem normalen Zimmer mit Küche und WC. Wir lebten sehr bescheiden. In Maczków liebten sich die Menschen, gründeten Familien." Das Leben in Maczków normalisiert sich, bis zum Sommer 1948 werden 479 Kinder in Maczków geboren. Die Polen leben gut in Maczków - mit den Möbeln, mit dem Geschirr der Harener - und bauen sich schnell ein funktionierendes Gemeinwesen auf: mit Bürgermeister, Stadtrat, Schulen und einem Krankenhaus. Zwei Theater und ein Kino bieten lang entbehrte Kultur.

Weitere Informationen
Das Bild zeigt Jean, einen erwachsenen Mann, mit drei Jungen, den Brüdern Münder. © Walter Münder

Das Kriegsende in Uslar und Haren

Schülerin Stella Porath erzählt die Geschichte eines französischen Zwangsarbeiters in Uslar. Eine Projektgruppe des Gymnasiums Haren hat für einen Podcast einen Zeitzeugen interviewt. mehr

Sorglose Kinder und hartes Leben im nassen Stall

Die Harener hingegen leben nun im Stroh auf dem Land. Die damaligen Kinder genießen die Zeit ohne Schule vermutlich mehrheitlich. "Wir haben als Kind Volleyball gelernt, das kannten wir ja nicht", erinnerte sich Heinz Scheper, der bei Kriegsende elf Jahre alt war, vor einigen Jahren im Gespräch mit dem NDR. "Wir haben Tischtennis gespielt, Jungen und Mädchen tanzten auf der Diele. Wir hatten ja keine Sorgen." Der älteren Generation beschert das provisorische Leben in der Enklave hingegen durchaus Sorgen: Neben dem Verlust des Zuhauses und wirtschaftlichen Nöten führt das Leben in den nassen Stellen auch zu hygienischen Problemen.

September 1948: Maczków wird wieder zu Haren

Für drei Jahre bleibt Haren Maczków. Deutsche Behörden bemühen sich in dieser Zeit intensiv darum, dass die Harener wieder in ihre Heimat zurück können. Im Herbst 1946 zieht Polen die ersten Soldaten aus Maczków zurück, im September 1947 übergeben die britischen Besatzer die Stadt zurück an die Deutschen, die Häuser werden sukzessive restituiert. Im August 1948 schließlich verlässt die letzte polnische Familie ihr Maczków - und Haren wird am 10. September mit einer Feierstunde wieder zu Haren.

Weitere Informationen
Ausschnitt der Europa-Karte vom 1. Mai 1945 aus dem "Atlas of the World Battle Fronts in Semimonthly Phases" des United States War Department, 1945, der die Gebietslage in zweiwöchigen Abständen dokumentiert. © This image is a work of a U.S. Army soldier or employee, taken or made as part of that person's official duties. As a work of the U.S. federal government, the image is in the public domain. Foto: United States War Department, General Staff 1945

Chronik des Kriegsendes im Norden

Im Frühjahr 1945 ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Wie verliefen die letzten Kriegsmonate? Welche überregionalen Ereignisse waren relevant? mehr

Wehrmachtssoldaten ergeben sich 1945 und halten weiße Tücher hoch. © picture alliance/akg-images Foto: akg-images

Dossier: Wie der Zweite Weltkrieg im Norden endete

Am 8. Mai 1945 kapituliert die Wehrmacht. Viele Städte und Lager sind durch die Alliierten da bereits befreit. Ein Dossier. mehr

Sogenannte Trümmerfrauen entsorgen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Schutt mit Loren. © picture alliance / akg-images

Nachkriegszeit: Trauer, Trümmer, Teilung - und Aufbruch

Nach dem Krieg sind die deutschen Städte eine Trümmerlandschaft. Das Land wird in vier Besatzungszonen aufgeteilt. mehr

Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 06.12.2019 | 19:30 Uhr

Mehr Geschichte

Aus Hamburg kommende Demonstranten auf ihrem Marsch am 18. April 1960: Demonstranten in Regenkleidung halten Plakate wie 'Atomare Aufrüstung bedeutet Krieg und Elend'. © picture-alliance / dpa Foto: Marek

Wie sich der Ostermarsch zur Friedensbewegung entwickelte

Der erste Protestmarsch führt 1960 ab Karfreitag in die Lüneburger Heide. In diesem Jahr finden die Märsche bis zum 1. April statt. mehr

Norddeutsche Geschichte