Schüler einer Gesamtschule wenden sich am im Oktober 1977 mit einem Protest für ihre Schule und deren Schulform an die Öffentlichkeit. © picture alliance / Klaus Rose Foto: Klaus Rose
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Schüler einer Gesamtschule wenden sich am im Oktober 1977 mit einem Protest für ihre Schule und deren Schulform an die Öffentlichkeit. © picture alliance / Klaus Rose Foto: Klaus Rose
AUDIO: Die 70er: Streit um die Bildung (4/12) (38 Min)

Wie viel Bildung für wen und wie? Der Streit in den 70ern

Stand: 28.12.2022 05:00 Uhr

Die Zukunft der Bildung gehörte zu den strittigsten Themen der 70er-Jahre. Die SPD sah sie als Weg zu mehr Chancengerechtigkeit. Konservative fürchteten um den bürgerlichen Bildungskanon. Besonders umstritten waren die Gesamtschulen.

von Ulrike Bosse, NDR Info

"Ich denke, dass in einer Demokratie die Gleichheit der Bildungsmöglichkeiten gegeben werden muss." Eberhardt Brandt stand mittendrin in den Auseinandersetzungen um die Bildung - als Lehrer an einer der ersten Gesamtschulen in Niedersachsen und als langjähriger Landesvorsitzender der GEW Niedersachsen. Die Bildungspolitik gehörte in den 70er-Jahren zu den am stärksten diskutierten Themen nach den Ostverträgen.

Bildungsoffensive nach dem "Sputnik-Schock"

In den 60er-Jahren hatte es eine Bildungsoffensive gegeben. Überall im Land wurden neue Universitäten und Hochschulen gegründet und die Bildungsausgaben stiegen. Mitgetragen wurde das von allen politischen Parteien. Denn als es der Sowjetunion 1957 gelungen war, den ersten Erdsatelliten ins All zu schießen, sah der Westen im "Sputnik-Schock", dass angreifbar ist, wer technologisch zurückbleibt. In der Bundesrepublik spitzte sich die Diskussion durch den vom Philosophen und Pädagogen Georg Picht geprägten Begriff der "Bildungskatastrophe" im Land zu. Der Soziologe Ralf Dahrendorf schrieb: "Bildung ist Bürgerrecht."

VIDEO: Deutsche Bildungskatastrophe (Panorama 1969) (5 Min)

Nur etwa 15 Prozent der Kinder eines Jahrgangs besuchten in den 60er-Jahren das Gymnasium. Wer aus einem Arbeiter-Haushalt kam, auf dem Land lebte, katholisch war oder eine Frau, hatte wenig Chancen auf höhere Bildung. Das veränderte sich: 1970 hatten 11,4 Prozent eines Jahrgangs Abitur oder Fachabitur gemacht, 1990 waren es 33,8 Prozent. Und die Studentenzahlen stiegen von 510.000 im Jahr 1970 auf über eine Million im Jahr 1980 und 1,52 Millionen im Jahr 1990.

"Schule muss anders funktionieren"

Eberhardt Brandt bei einer Protestaktion für Arbeitszeitverkürzung in den 70er-Jahren. © Eberhardt Brandt
Als Lehrer sah Eberhardt Brandt, dass die Privilegien des Bildungsbürgertums auch nach der Bildungsoffensive noch lange Bestand hatten.

Allerdings war es für Kinder, die nicht aus Akademiker-Familien kamen, anfangs schwer, sich in den weiterführenden Schulen durchzusetzen, erzählt Eberhardt Brandt: "Die wurden scharf abgefragt, und dann konnte man ihnen nachweisen, dass sie schlechte Noten hatten." Oder es wurde aus dem Klassenbuch vorgelesen: "'Was ist der Vater von Beruf?' Hieß das dann VW-Arbeiter: 'Na, was willst du hier?"

Auch wenn er selbst nicht betroffen war, habe ihn diese Erfahrung berührt und auf seinem weiteren Lebensweg geprägt: "Die war auch ein Motiv, warum ich mir gesagt habe: Schule muss anders funktionieren als sie damals funktionierte." Doch darüber, wie Schule funktionieren sollte, wurde gestritten.

Bildungspolitik contra Gesellschaftspolitik?

Die Sozialdemokraten betrachteten die Bildungspolitik unter der Überschrift "Aufstieg durch Bildung" als einen Weg, mehr Chancengleichheit in der Gesellschaft zu erreichen. Konservative Politiker hielten dagegen, dass Bildungspolitik nicht missbraucht werden dürfe, um gesellschaftspolitische Ziele zu erreichen. Sie machten sich zu Sprechern einer bürgerlichen Schicht, die ihre Privilegien gefährdet sah. Viele Eltern sorgten sich allerdings wohl tatsächlich um das Bildungsniveau ihrer Kinder, wenn in der "reformierten Oberstufe" nicht mehr wie seit Generationen Latein und Altgriechisch als Ausweis akademischer Reife abgerufen wurden, sondern Naturwissenschaften eine größere Rolle spielten oder gar die politisch umstrittenen gesellschaftswissenschaftlichen Fächer.

Dazu kam der Streit um die integrierten Gesamtschule, in der die Kinder gemeinsam unterrichtet und zu dem ihnen gemäßen Bildungsabschluss geführt werden. In anderen Ländern hatte sie sich längst bewährt, während die Bundesrepublik am gegliederten Schulsystem festhielt. Im Rahmen von Schulversuchen wurden in den 70ern einige Gesamtschulen gegründet. Doch während die SPD sie flächendeckend einführen wollte, gab es weiterhin Widerstand aus dem konservativen Lager.

Infiziert vom Gesamtschul-"Virus"

Eberhardt Brandt aus Hamburg, ehemaliger Landesvorsitzender der GEW Niedersachsen © NDR Foto: Franziska Amler
Eberhardt Brandt unterrichtete an einer der ersten Gesamtschulen in Niedersachsen.

Eberhardt Brandt wurde an seinem Studienort Marburg mit dem Gesamtschul-"Virus" infiziert: "Da hat Professor Klafki, der die ersten Gesamtschulen errichtet hat, mit seinen Mitarbeitern Seminare gemacht zum Thema Schulsystem, Schulreform, Gesamtschule, Reform der Universität." Nach Abschluss seines Studiums bewarb sich Brandt daher an die 1972 in Wolfsburg eingerichtete Gesamtschule. "Wir wollten eben Schule anders machen", sagt er. Und sie hätten die Chance dazu bekommen: "Für uns gab es keine Erlasse, keine Richtlinien in den Fächern. Wir mussten alles selbst entwickeln." Was viel Arbeit, aber auch viel Freude gemacht habe.

Und anders als vermuten werden könnte, hätten Eltern aus allen gesellschaftlichen Schichten ihre Kinder an die Gesamtschule geschickt. "Der Elternratsvorsitzende der Schule war Hauptabteilungsleiter im Volkswagenwerk", sagt Brandt - und CDU-Mitglied.

Zum alleinigen Modell schafft es die Gesamtschule nicht

Doch insgesamt blieben die Fronten verhärtet. "Mut zur Erziehung" war der Titel eines Kongresses im Januar 1978, bei sich konservative Wissenschaftler, Lehrer und Eltern massiv gegen anti-autoritäre Bildungsreformen wandten. Und während liberale CDU-Politiker wie der niedersächsische Kultusminister Walter Remmers den Gesamtschulen erst einmal Zeit geben wollte, sich zu entwickeln, gab es CDU-geführte Bundesländer, die die Abschlüsse der Gesamtschulen nicht anerkennen wollten. Erst 1982 kam es zu einem Kompromiss.

Letztlich scheiterte die Einführung der Gesamtschule als einzige Schulform in der Bundesrepublik auch am Widerstand vieler Eltern. Doch die Existenz der Gesamtschulen übte Druck aus auf das gegliederte Schulsystem und es entwickelte sich weiter. Sehr viel mehr Kinder besuchten Realschulen und Gymnasien. Und das Abitur blieb nicht länger ein Privileg von Kindern aus bürgerlichen Familien. Eberhard Brandt sagt, das Engagement für die Bildung habe sich gelohnt - gesellschaftlich, aber auch persönlich: "Also für meine Biografie war es so: Es hat mir sehr viel Spaß gemacht."

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