Stand: 02.12.2017 08:00 Uhr

"Hasenjagd": Prozessbeginn vor 70 Jahren

Der sogenannte Celle Massacre Trial jährt sich zum 70. Mal: Am 2. Dezember 1947 begann der Prozess gegen 14 Männer, die sich an einer Hetzjagd auf KZ-Häftlinge beteiligt haben. Am Ende standen drei Todesurteile, vier Haftstrafen und sieben Freisprüche - die Todesurteile wurden aber später ebenfalls in Haftstrafen umgewandelt. Die Angeklagten hatten sich an der sogenannten Hasenjagd beteiligt: Nach einem Bombenangriff auf den Bahnhof der Stadt war es einigen Häftlingen gelungen, aus einem Zug zu entkommen. Auf sie wurde anschließend Jagd gemacht. Auch Zivilisten beteiligten sich an dem Massaker.

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Drei Holzkreuze sind Teil des Mahnmahls an die Celler Hetzjagd auf KZ Häftlinge. © NDR Foto: Uwe Day

April 1945: Mörderische Hatz auf KZ-Häftlinge in Celle

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500 KZ-Häftlinge sterben im Bombenhagel

Der Nachmittag des 8. April 1945: Ein Güterzug mit offenen Waggons fährt in den Celler Bahnhof ein. An Bord etwa 3.400 Häftlinge aus den Konzentrationslagern Salzgitter-Drütte und Holzen. Die meisten von ihnen sind Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion und Polen. Das Ziel des Zuges ist das Konzentrationslager Bergen-Belsen nordwestlich von Celle. Der Zug muss wegen technischer Probleme halten. Plötzlich tauchen alliierte Bomber auf. Eine US-amerikanische Bomberstaffel greift den Güterbahnhof an, um den Nachschub für die deutschen Truppen zu unterbrechen. Die KZ-Häftlinge versuchen, den Bomben zu entkommen. Karl Tucht erinnert sich 40 Jahre später in einem Fernsehinterview: "Die Waggons waren ein Stückchen offen. Ich bin dann herausgesprungen. Und die SS-Männer sind alle runter, haben sich hingelegt in den Graben." 50 Minuten dauert der Angriff, 500 Häftlinge sterben im Bombenhagel. Auch unter der Zivilbevölkerung von Celle gibt es Tote.

Verbrechen in der Endphase des Krieges

Das Massaker von Celle zählt zu den sogenannten Kriegsendphase-Verbrechen auf niedersächsischem Gebiet. Die SS hält angesichts der anrückenden alliierten Truppen an ihren Plänen fest, keinen der KZ-Häftlinge in die Hände des Feindes fallen zu lassen. So treiben bei den sogenannten Todesmärschen SS-Leute die völlig entkräfteten KZ-Häftlinge aus den Lagern. Manche Märsche gehen über mehr als hundert Kilometer. Viele der Häftlinge brechen erschöpft zusammen und werden von ihren Bewachern ohne jegliche Skrupel erschossen. Hier finden Sie eine Übersicht der Todesmärsche in Norddeutschland.

Wehrmacht befiehlt Jagd auf Entflohene

Am späten Abend hat die SS den Großteil der Geflohenen wieder zusammengetrieben. Doch viele halten sich noch versteckt, unter anderem im Neustädter Holz, einem Waldgebiet in der Nähe des Bahnhofs. Für den nächsten Morgen befiehlt der Stadtkommandant der Wehrmacht, Paul Tzschökell, die Jagd auf die Entflohenen. Am 9. April durchkämmen SS-Leute, Polizisten, Feuerwehrleute, Volkssturm-Männer, Hitlerjungen, aber auch Zivilisten die Gegend in der Nähe der Bahnlinie. Es ist der Beginn eines beispiellosen Massakers, sagt der Celler Ortshistoriker Reinhard Rohde: "Gegenüber der Bevölkerung wird die Parole ausgegeben, die Häftlinge seien plündernd unterwegs und zum Teil auch bewaffnet. So wollte die SS eine Situation herstellen, in der die entflohenen Häftlinge als Bedrohung auch zum Abschuss freigegeben werden." Die Celler Bevölkerung wird Augenzeuge. So erinnert sich in einem Fernsehbeitrag des NDR aus dem Jahr 1985 auch Adolf Völker, der 1945 ein Jugendlicher war: "Da bauten sich Soldaten in unseren Vorgärten zu einer Schützenkette auf. Diese Schützenkette hat die Häftlinge vor sich hergetrieben, die sich in den Gärten versteckt haben, und von beiden Seiten wurde mit Karabinern auf sie geschossen, wenn sie zur Seite weglaufen wollten."

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Drei Holzkreuze sind Teil des Mahnmahls an die Celler Hetzjagd auf KZ Häftlinge. © NDR Foto: Uwe Day
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"Häftlinge wurden zum Abschuss freigegeben"

Noch kurz vor Ende des Krieges beteiligen sich Celler Bürger an der Jagd nach entflohenen KZ-Häftlingen. Der Historiker Reinhard Rohde berichtet über eine unfassbare Geschichte. 3 Min

Leichen werden von der Straße gesammelt

Die Täter gehen erbarmungslos vor. Wehrlose Häftlinge werden mit Kopfschüssen regelrecht exekutiert. 170 Häftlinge werden ermordet. Dem damals 13-jährigen Wilhelm Sommer aus Celle bietet sich ein erschreckendes Bild, wie er 1985 im NDR Fernsehen erzählt: "Am anderen Tage, also am 9. April, fuhr der Bahnspediteur mit einem Rollwagen, zwei Pferden davor, durch die Straßen, eskortiert von SS-Männern und Häftlingen, die die Leichen wie Säcke auf diesen Wagen schmissen." Am 12. April, nur drei Tage nach der Menschenjagd, nehmen britische Truppen die Stadt ein. Zu den ersten Ermittlungen der Alliierten kommt es bereits im Mai 1945. Doch es dauert bis zum Dezember 1947, bis ein Militärgericht die 14 Männer wegen Mordes anklagt. Die meisten von ihnen leugnen die Vorwürfe. Nach den Urteilen sind die letzten Verurteilten 1952 wieder auf freiem Fuß. Und manche führen danach wieder ein Leben als durchaus angesehene Bürger.

Entstehung des Begriffs "Hasenjagd"

Erst in den 1980er-Jahren werden kritische Stimmen laut, die Stadt möge die Vorfälle aufarbeiten und daran erinnern. Inzwischen ist von der "Celler Hasenjagd" die Rede, da manche Augenzeugen gesehen haben wollen, dass die KZ-Häftlinge wie Hasen im Zickzack über das freie Feld in den Wald geflohen seien und dabei von ihren Verfolgern erschossen wurden, sagt Ortshistoriker Rohde. So sei der zynische Begriff "Celler Hasenjagd" entstanden. Seit 1992 erinnert ein schlichtes Mahnmal in den Triftanlagen in der Nähe des Bahnhofs an das Massaker.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Hannover | 02.12.2017 | 17:00 Uhr

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