Stand: 16.05.2018 12:02 Uhr

"Mein 68 fand 77 statt und ich kam zu spät zum Fest"

Die Erinnerungen und Assoziationen zu den 68ern gehen in alle möglichen Richtungen und polarisieren bis heute. Wir haben Künstler, Schriftsteller und Zeitgenossen aufgerufen, uns ihre Gedanken aufzuschreiben. Mit Arno Geiger, Jahrgang 1968, ging es los. Es folgten: Sibylle Lewitscharoff, Franziska Augstein, Nora Gomringer, Friedrich Schorlemmer, Elke Heidenreich, Frank Witzel, Antje Vollmer, Claus Peymann und Bettina Röhl.

Die in Paris lebende Schriftstellerin Gila Lustiger schaffte ihren literarischen Durchbruch mit dem autobiografischen Roman "So sind wir", der 2005 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Gila Lustiger, Jahrgang 1963, hat vor allem die Nachwehen der 68er-Bewegung erlebt.

von Gila Lustiger

Porträt der Schriftstellerin Gila Lustiger  Foto: Karlheinz Schindler
Gila Lustiger erlebte ihre persönliche 68er-Bewegung erst 1977, als sie gegen Atomkraftwerke und die Bildungsmisere skandierte.

Mein 68 fand 77 statt. Kam ich zu spät zum Fest? Na klar. Denn 77 war das Buffet schon aufgegessen, der Wein ausgetrunken, die meisten Gäste weg und der Saal verraucht. 77 war ich vierzehn. Nach einem Geschichtskurs gründeten wir eine antifaschistische Gruppe. Wir, das waren die Klassenkameraden, die Hermann Hesse lasen, Stones hörten und im Grüneburgpark die ersten Versuche mit Drogen machten. Und ein bisschen auch mit Petting und nun eben auch mit Politik.

"Make love not war" - das hörte sich wie ein guter Vorsatz an

Antifaschismus im Westend, in Frankfurt? Mein Vater spitzte spöttisch die Lippen. Junge Menschen in der DDR, die gegen die Stasi und die SED-Diktatur ankämpften, ja, das waren Antifaschisten. Auch der Jugend in Prag und in Ungarn gebührte Hochachtung. Aber ich, die ich da im Schneidersitz auf unserm Perserteppich im Wohnzimmer hockte und mir das Geschwafel über den Konkurrenzkapitalismus eines Klassenkameraden anhörte, nur weil er schöne Augen hatte, eine coole Schlagjeans und schulterlanges Haar und ich mit ihm … Ja, was wollte ich eigentlich mit ihm? Und er mit mir? "Make love not war" - das hörte sich wie ein guter Vorsatz an. Nur wie man gute Vorsätze in die Tat umsetzt, womöglich auch noch basisdemokratisch-antiautoritär, das wussten wir beide nicht. Und unheimlich war uns das auch.

Pflichtbewusste Antifaschistin

In meiner Erinnerung skandiere ich pflichtbewusst gegen alles, wogegen eine pflichtbewusste Antifaschistin zu skandieren hat. Mein "Nieder mit..." galt den Atomkraftwerken und der Startbahn West. Der Bildungsmisere und dem Radikalerlass. Den Bullen und dem System. "Welches System meinst du denn genau?", gab mein Vater zu bedenken. "Das System halt. Das Systeme de manière générale", erwiderte ich. Dann wurde Ponto ermordet, Schleyer verschleppt, die Lufthansa-Maschine "Landshut" entführt.

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Bedrückende Enge in der Heimatstadt

Warum wurden unsere Vorbilder so gewalttätig wie ihre Väter, auch wenn sie ihre eigene Gewalt als Notwehr zu verharmlosen versuchten. Das werden andere klären. Mein 68 fand 77 statt und ich kam zu spät zum Fest. Kaum fing es an, war der Spaß auch schon vorbei. Nieder mit der Schwerkraft, es lebe der Leichtsinn. Erinnern Sie sich an diesen Spontispruch? Ich ganz genau. Leichtsinn, Fröhlichkeit, wie sehr ich das ersehnte. Wie drückend und eng mir damals alles in meiner Heimatstadt Frankfurt erschien. 77 war jedoch von einem spielerischen Umgang mit den eigenen Welt- und Feindbildern nicht mehr viel zu spüren.

Mein 68 hörte 77 auf. Und das Schlusswort sprach Herr Lewinter, der jeden Sonntag zu uns kam, um mit meinem Vater Frühschoppen zu sehen. "Wir haben nach 43 Tagen Hanns-Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet", setzt er an, dann lässt er die Zeitung mit dem Bekennerschreiben der RAF auf seinen Schoss sinken und blickt mit seinen durch die Weitsichtbrille unendlich groß erscheinenden Pupillen auf den Teller mit dem Spritzgebäck, den ich ihm entgegenhalte. "Nein Danke, mein Lieb-Kind", sagt er und dann, sich zu meinem Vater hinwendend: "Und ich hoffte so sehr es sei vorbei."

Geblieben sind nur gut zu vermarktende Sprüche und Bilder

Irgendwann, irgendwie - ich weiß nicht wann, ich weiß nicht wie, haben sich alle Forderungen der 68er-Bewegung verwässert. Wurde aus der Gleichberechtigung ein Beziehungsratgeber. Aus der Selbstverwirklichung, Achtsamkeitseminare im Allgäu. Aus dem Umweltschutz eine Buddha Rainbow Bowl mit gebratenem Tofu. Aus dem Klassenkampf Hartz IV. Und aus dem Konzept Stadtguerilla? Entscheiden Sie. Sollte man eine Revolution an ihrer Wirkung messen? Ich finde schon. Geblieben von der 68er-Bewegung sind ein paar gut zu vermarktende Sprüche und Bilder von Ikonen, die auf ein T-Shirt passen oder auf eine Tasse oder auf einen Stoffbeutel. Nippes für Nostalgiker.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 16.05.2018 | 14:20 Uhr

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