Stand: 14.03.2018 00:01 Uhr

'68: Irrungen und Wirrungen zuhauf

von Sibylle Lewitscharoff

1968 - ein Jahr, das vielfältigste Assoziationen und Erinnerungen provoziert: Die einen denken an Protest und Revolte, andere an ein bewegendes Gefühl des Aufbruchs. Bis heute polarisieren die sogenannten "Achtundsechziger". NDR Kultur hat Schriftsteller, Intellektuelle, Künstler, Zeitgenossen aufgerufen, sich zu äußern zu jenem Epochenjahr, das in diesem Jahr 50 wird.

Sibylle Lewitscharoff © dpa Foto: Ulrich Baumgarten
Sibylle Lewitscharoff blickt mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück.

Mit Arno Geiger haben wir den Anfang gesetzt, weiter geht es mit der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff. Ihren literarischen Durchbruch feierte sie 1998, als sie für ihre Erzählung "Pong" in Klagenfurt mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Viele Preise folgten: 2009 etwa der "Preis der Leipziger Buchmesse" für ihren Roman "Apostoloff" und 2013 der renommierte Georg-Büchner-Preis. Das Jahr 1968 erlebte Lewitscharoff 14-jährig, mit jugendlicher Neugier und großem Tatendrang.

LSD, Bob Dylan, Freiheitsbegehren

"Es fällt mir nicht schwer, mich in die Zeit von 1968 zurückzuversetzen. Ich war damals 14 Jahre alt - ein aufmüpfiger Teenager, der davon träumte, auszubüxen, am liebsten stante pede nach New York, mitten ins Herz der aufgetummelten Sensationen, direkt zu Andy Warhols 'Factory'. Es lockten LSD, Bob Dylan und ein sensationelles Freiheitsbegehren, allerdings auch schon ein winziges Splittergrüppchen der Trotzkisten, das der westdeutschen Republik den Kampf angesagt hatte. Deutschland, West wie Ost, war für mich damals Naziland, mit dem ich nichts zu tun haben wollte, obwohl meine Eltern keine Nazis gewesen waren und nicht die verlogene Tour ritten, man habe von all den Gräueln nichts wissen können.

Heraufziehen einer Glanzzeit

Die Ostkommunisten waren spießige Schnarchsäcke oder Hardcore-Stalinisten, die Maoisten undurchsichtig und scheinheilig. Trotzki und Warhol waren für mich gleichermaßen Helden, der weißhaarige Perückenmann eine Spur interessanter, weil sich das Treiben in der 'Factory' mit dem Heraufziehen einer spektakulären neuen Glanzzeit verband. Eine grandiose Freiheit winkte. Alles war möglich - Erweiterung des Bewusstseins, ein freiheitliches Leben, das nicht mehr an öde Familienmodelle gebunden war. Allein die Vorstellung, heiraten zu sollen und Kinder in die Welt zu setzen, erzeugte in mir Brechreiz. Im Übrigen hat dies auch nie jemand von mir erwartet oder gar verlangt. Meine Mutter nicht, und sonst auch niemand.

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Als Anhalter zur Documenta

Zwar habe ich es nicht in Andy Warhols Factory geschafft, aber ich bin von zu Hause ausgebüxt, um mit einem Freund per Anhalter zur Documenta zu fahren. Heilandzack, waren wir aufgekratzt! Mich begeisterten Künstler wie George Segal und Edward Kienholz, aber auch ganz andere, etwa Joseph Cornell und Jean Dubuffet. Die Liebe zu den beiden Letztgenannten ist geblieben; was sich sonst noch auf der Documenta tummelte, hat nicht gehalten, was es versprach. Seit Jahrzehnten ist viel von dem Zeugs, was damals zu sehen war, für mich völlig uninteressant.

Alles war neu

Meine Liebe zur Literatur und zur bildenden Kunst war gleich stark ausgeprägt. Alles war neu, weil ein junger Mensch eben noch sehr wenig kennt. Am liebsten hätte ich alle wichtigen Werke der Weltliteratur verschlungen. Ich las die Bücher nicht, ich fraß sie gleichsam in mich hinein, hatte sogar das Glück, dass mich jemand in eine Vorlesung von Ernst Bloch in Tübingen einschleuste. Unvergesslich, wie der berühmte Mann brummte, als er eine querliegende Rose auf seinem Pult vorfand, die er mit allen Zeichen des Abscheus mit den Händen wegwedelte, bis sie herunterfiel.

Irrungen und Wirrungen zuhauf

Das klingt alles sehr flott, nach Neugier und einem unbändigen Welthunger. Aber es ist nur die Hälfte der Wahrheit. Im Grunde meines Herzens war ich zutiefst verstört, weil sich mein Vater zwei Jahre zuvor erhängt hatte. Um der Verstörung zu entkommen, bewegte ich mich mit Inbrunst im Blühwunder einer tumultuösen neuen Zeit. Und es gelang. Meine Freundinnen in der Schule halfen, mein unmäßiger Leseappetit half. Nüchtern betrachtet, mit heutigem Wissen, war diese Zeit alles andere als glänzend.

Irrungen und Wirrungen zuhauf, peinliche Auftritte von Studenten, die wie Schlagetots von der Revolution bramarbasierten, nacktbusige Frauen, die Theodor W. Adorno verstummen ließen. Allein die Unfähigkeit, deutschen Juden mit Verständnis zu begegnen, kann einen im Nachhinein erschaudern lassen. Stattdessen wurde fast ausschließlich die palästinensische Fahne gehisst. Die langhaarigen Kinder der Nationalsozialisten wussten selten, was sie taten und wovon sie faselten."

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Zwei Frauen auf dem Monterey Pop Festival am 17. Juni 1967 © picture alliance / AP Photo

1968: Ein Epochen-Jahr, das die Gesellschaft verändert

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NDR Kultur | 14.03.2018 | 19:00 Uhr

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