Botschaft aus Prag
Tausende flüchten im Sommer 1989 in die westdeutschen Botschaften von Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei. Lothar Kosz aus Rostock springt 1989 über den Zaun der Prager Botschaft. 25 Jahre später hält er einen Brief in Händen, den er damals geschrieben hat. Im "Atlas des Aufbruchs" erzählt er davon.
"Die erste Nacht hinter mir, ein Alptraum! Die Leute in den Zelten mit Doppelbetten haben die Paläste mit Himmelbetten darin. Andere schlafen im Freien auf Pritschen, die sie gegen Regen abgedeckt haben oder auf Pappe." Als Lothar Kosz diese Zeilen mit krakeliger Schrift schreibt, hockt er auf einem nur 60 Zentimeter breiten Karteikartenschrank. Es ist sein Schreib- und Schlafplatz in der bundesdeutschen Botschaft in Prag.
Das Abenteuer seines Lebens
Mit einem beherzten Sprung über den Botschaftszaun hatte sich Kosz am 26. September 1989 in das größte Abenteuer seines Lebens gestürzt, wie er sagt. Doch was ihn hinter dem Zaun erwartet, darauf ist der Rostocker nicht gefasst: Bei seiner Ankunft drängen sich bereits 250 DDR-Bürger auf den Botschaftsfluren. Zwei Tage später sind es bereits zehn Mal so viele. "Und der Zustrom will nicht enden“, schreibt er aus der Botschaft.
"Hier leben derzeit Säuglinge, Hochschwangere, Familien mit bis zu vier Kindern. Viele Vorbestrafte und Assis, jugendliche Dummköpfe, die das hier als fröhliches Abenteuer betrachten; Skins, die mit halbwegs pink-normalen Frisuren ankamen, sich hier, wo sie Morgenluft witterten, gegenseitig die Haare abrasierten, bis nur noch ein Hakenkreuz übrig blieb."
"Stasischläger" hinterm Botschaftszaun
Ständiges Schlangestehen wie in der DDR, "ein zum Wahnsinn treibendes Kindergebrüll" plus die Angst vor der Zukunft und um die Zurückgelassenen - all das zerrt an den Nerven der Prager Botschaftsflüchtlinge, die unerwartet rüde miteinander umgehen, wie Lothar Kosz beschreibt. Zusätzlich belastend: die allgemeine Angst vor Stasischlägern, die in und vor der Botschaft lauern sollen. Auch Lothar Kosz wird misstrauisch beobachtet, schließlich kritzelt er ständig etwas auf Papier: "Briefe zu schreiben, machte einen verdächtig. Man hätte ja ein Spitzel sein können", erklärt er. Aus diesem Grunde hat Kosz auch kaum in der Prager Botschaft fotografiert: Nur eine Handvoll verwackelter Schwarz-Weiß-Fotos zeigen den beengten Alltag in den Botschaftsfluren und überfüllten Zimmern.
- Teil 1: Das Abenteuer seines Lebens
- Teil 2: "Einen Scheißstaat verlassen, die Heimat verloren"