Ukraine-Russland-Konflikt: "Das sollte Europa sehr beunruhigen"
Die Lage in der Ukraine ist beunruhigend. Bundeskanzler Olaf Scholz ist deshalb in diplomatischer Mission in Kiew und Moskau. Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi beobachtet den Ukraine-Konflikt sehr genau.
Herr von Dohnanyi, die Lage im Ukraine-Konflikt hat sich - entgegen vieler Hoffnungen - nicht entspannt. Was passiert da gerade?
Klaus von Dohnanyi: Ich glaube, es kann sich auch auf diese Weise nicht entspannen. Man muss wahrscheinlich einen Versuch machen, eine Vereinbarung mit Putin zu treffen. Auch auf westlicher Seite muss man dabei entgegenkommen, und ich denke, das ist auch möglich. Ich hoffe, dass Olaf Scholz auf seiner Reise zu einem solchen Ergebnis kommt.
Die Machtarchitektur verschiebt sich zwischen den USA, Russland, China und Europa. Was genau möchte Putin?
Klaus von Dohnanyi: Es ist schwer, in anderer Leute Kopf zu schauen. 1990 verhandelte der Außenminister der USA, Baker, mit Gorbatschow über die Frage, wie man das Problem behandelt, dass Deutschland vereinigt werden solle, aber auf der anderen Seite auch in der NATO bleiben könne. Das war eine schwierige Frage, denn die Sowjetunion bestand ja noch. Damals hat Baker Gorbatschow zugesagt, dass Deutschland vereinigt wird, aber nicht so, dass dabei die NATO über Deutschland hinaus ausgedehnt wird. Diese Zusage gibt es schriftlich von Herrn Baker in seinen Notizen. Es gab keine schriftliche Vereinbarung mit Gorbatschow. Es wird bestritten, dass diese Vereinbarung wirksam war, aber dieses Bestreiten ist völlig sinnlos, denn es gab Augenzeugen dafür, und es ist völlig eindeutig, dass die USA zugesagt haben, dass es keine Erweiterung der NATO gibt, wenn Deutschland wiedervereinigt wird. Der damalige US-Präsident George Herbert Bush hat das Versprechen einfach zurückgenommen, hat das Wort gebrochen. Und seitdem dieser Wortbruch besteht - und es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass das so ist - trauen die Russen dieser ganzen Entwicklung nicht mehr. Deswegen will Putin eine schriftliche Zusage auf der amerikanischen Seite. Ich hoffe, dass Scholz - wenn das schon jetzt möglich ist - ein Paket mitbringt, was die deutsche Antwort auf diese Frage enthalten könnte.
Scholz ist bislang als enger Verbündeter der USA aufgetreten. Wie wird das im Kreml wahrgenommen?
Klaus von Dohnanyi: Natürlich ist Deutschland ein Verbündeter der USA, wir sind ja auch Mitglied der NATO. Aber ich hatte vor einigen Tagen eine Diskussion mit einer Wissenschaftlerin von der Stiftung Wissenschaft und Politik - das ist vielleicht der wichtigste Thinktank, den die Bundesregierung auf dem verteidigungspolitischen Sektor hat. Da habe ich vorgeschlagen: Wie wäre es, wenn Deutschland und Frankreich den Vorschlag machen würden, in den nächsten zehn Jahren keiner Erweiterung der NATO zuzustimmen? Das bedeutet nicht eine endgültige Absage, aber es bedeutet eine Verschiebung auf zehn Jahre. In dieser Zeit wird Europa, auch wenn das die USA nicht mitmachen, Verhandlungen mit Russland über die Sicherheitsarchitektur in Europa führen. Es war sehr interessant, dass die Vertreterin des Instituts Wissenschaft und Politik, die eher auf der russlandkritischen Seite argumentiert hat, das für einen interessanten Vorschlag hielt. Ich glaube, dieser Vorschlag sollte auch zwischen Deutschland, Frankreich und Russland besprochen werden.
Zahlreiche westliche Staaten fordern ihre Staatsbürgerinnen und -bürger zum Verlassen der Ukraine auf, auch Deutschland. Der in der Ukraine lebende Schriftsteller Andrij Kurkow berichtet, dass das Leben auf den Straßen von Kiew ruhig sei. Natürlich sei die Angst vor einem Angriff da, aber auch die Hoffnung auf den Erfolg der diplomatischen Gespräche. Wie schätzen Sie das ein?
Klaus von Dohnanyi: Es wird nicht annähernd so laut gesprochen in der Ukraine selbst wie um die Ukraine herum. Das ist beruhigend, weil man in der Ukraine wohl auch verstanden hat, dass es nicht unmittelbar bevorsteht, dass Russland entweder Kiew bombardiert oder einmarschiert, sondern dass es Chancen für eine vernünftige Verhandlung gibt. Ich befürchte nur, dass die USA andere Interessen haben. Ich glaube, die USA haben eher ein Interesse daran, dass es einen Konflikt gibt, weil das ihre Position gegenüber Russland noch einmal stärkt. Und leider ist Russland ein Verbündeter von China geworden, was ausschließlich das Ergebnis der US-Politik der letzten 30 Jahre ist. Man hat Russland auf die Seite Chinas getrieben, und jetzt hat sich sogar der chinesische Präsident in die Ukraine-Frage eingemischt. Das ist eigentlich ein ungeheurer Vorgang, und das sollte Europa sehr beunruhigen.
Kann Scholz etwas ausrichten, oder ist die neue Regierung noch zu jung, zu uneingespielt für einen so ernsten, so großen Konflikt?
Klaus von Dohnanyi: Scholz ist ein sehr, sehr erfahrener Politiker. Er hat eine etwas stillere Art, was in vielen Dingen gut und und richtig ist. Ich denke schon, dass er mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Kabinett und in der SPD darüber nachgedacht hat, inwieweit man die alte Tradition sozialdemokratischer Entspannungspolitik wieder aufnehmen kann. Wir dürfen uns nicht durch US-Interessen in einen Krieg in Europa hineindrängen lassen. Das müssen wir unter allen Umständen verhindern.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen
