"Hitler-Tagebücher": Die Recherchen und Hintergründe

Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

von John Goetz

Die "Tagebücher" enthalten einen Extraband über diese angebliche Mission, den sogenannten "Sonderband Heß". Darin hat Kujau, der Erfinder und Ghostwriter seines imaginären Hitler, seine eigene Geschichte der Heß-Mission geschrieben:

"Was war vorausgegangen!
Schon ab November 1940 lag mir Heß immer in den Ohren, er glaube wie ich das England und Deutschland in Frieden zusammen leben könnten. Daß die Zerfleischung unserer beiden Völker nur einen Genugtuung bereiten würde, nämlich dem alten Fuchs in Moskau Stalin. Wie aber könnte man den großen Deutschenhasser Churchill ausschalten? Heß hatte den Plan, nach England zu fliegen und mit dem Herzog v. Hamilton zu verhandeln, da er vermutete, daß dadurch ihm in England ohne Churchill Aufmerksamkeit geschenkt wird. Mir war nicht gut, bei diesem Vorschlag und ich sagte man müsse noch andere Überlegungen anstellen, um Churchill gleich von vornherein auszuschalten. So gab ich die Erlaubnis, mir seinen Plan, sollte er ihn ausgearbeitet haben, vorzulegen.

Der Plan

  1. Sollte die Mission gelingen und Heß hat Erfolg, hat er mit meinem Einverständnis gehandelt.
  2. Wird Heß als Spion in England gefangen gesetzt, so hat er mich früher einmal von seinem Plan in Kenntnis gesetzt, ich aber habe abgelehnt.
  3. Sollte seine Mission total fehlschlagen, erkläre ich, Heß habe in einer Wahnvorstellung gehandelt.
(…)

Nun ist der letzte Versuch einer Verständigung mit England fehlgeschlagen. Das englische Volk weiß vielleicht zu schätzen, was der Flug v. Heß bedeutet, aber die alten verkalkten Männer in London nicht. Wenn nicht die Vorsehung uns beiden Völkern hilft, wird der Kampf solange weitergehen, bis ein Volk total vernichtet ist, das englische Volk. Nach dem Sieg wird das deutsche Volk auch bereit sein, die Umstände des Fluges des Pg. Heß zu verstehen, und dieses Unternehmen wird seine Würdigung finden." Auszug aus den "Hitler-Tagebüchern vom 16. Mai 1941

Das hat in den "Tagebüchern" eine Vorgeschichte, die schon im Vorfeld des deutschen Überfalls auf Polen und des Beginns des Krieges einsetzt:

"26. Heß schickt mir eine persönliche Schrift zum Englandproblem. Hätte nicht gedacht, daß dieser Heß so scharfsinnig denken kann. Diese Schrift ist sehr, sehr interessant. 27. Mußte die ganze Nacht an die Schrift von Heß denken. Muß ihn unbedingt unter vier Augen darüber sprechen." Auszug aus den "Hitler-Tagebüchern vom 26. und 27.6.1939

"Lese nochmals die Schrift von Heß. Einfach fantastisch und doch so einfach!" Auszug aus den Hitler-Tagebüchern vom 28.6.1939

In den letzten Tagen habe ich immer wieder die Pläne für den Fall Weiß durchgearbeitet. Dieser Plan muß nur seine richtige Ruhe haben, ich glaube es ist alles bedacht worden. Habe auch nochmals mit Heß gesprochen, sobald er alles richtig überdacht hat, wird er sich melden. Hätte ich diesen Heß nicht zugetraut, nicht diesen Heß. Auszug aus den "Hitler-Tagebüchern vom 12.7.1939

Wenn ich den Text der gestrigen Rede dieses Churchill lese, so weiß ich gleich wer der größte Vergifter in London ist. Nun kann ich Heß verstehen, der meint diesen Churchill muß man umgehen oder ausschalten. Auszug aus den "Hitler-Tagebüchern vom 9.8.1939

Leitmotiv der Mission von Heß über Monate aufgebaut

Es ist auffällig und interessant, wie das Leitmotiv der Mission von Heß in den "Hitler-Tagebüchern" über viele Monate hinweg aufgebaut wird - ähnlich einem langsam entfalteten, immer wieder verwendeten Leitmotiv in einer Wagner-Oper. In den "Tagebüchern" finden sich zu viele einschlägige Textpassagen, um sie hier alle zitieren zu können. Es ist offenkundig, dass die Erzählung der Heß-Legende ein zentrales, wiederkehrendes, sorgfältig ausgearbeitetes Thema in den "Tagebüchern" ist. Wie die Heß-Mission wird später Hitlers angebliche Unkenntnis des Holocaust ein wiederkehrendes Leitmotiv in Kujaus "Tagebuch"-Erfindungen sein.

Hitlers Rolle für "Stern"-Verantwortliche attraktiv

Da zu Beginn der 1980er-Jahre in der Geschichtswissenschaft lebhaft über Hitlers Rolle und seine möglichen Intentionen bei Heß' Flug nach Großbritannien gestritten wird, sind die "Tagebuch"-Ausführungen über diese ominöse "Friedensmission" für die "Stern"-Verantwortlichen besonders attraktiv. Deshalb wollen sie diese vermeintliche Enthüllung an prominenter Stelle, in der ersten Folge der Hitler-Serie des "Stern", veröffentlichen. Sie sind sogar bereit, die zweite große (und genau so unzutreffende) "Enthüllung", dass Hitler nichts vom Holocaust gewusst habe, zurückzuhalten und erst nach der Heß-"Enthüllung" publik zu machen. Die angeblich von Hitler persönlich in seinen "Tagebüchern" dokumentierte Heß-Legende ist auch eines der Argumente, mit denen der Verlag Gruner + Jahr sein Sensationsdokument an Zeitungen und Zeitschriften in aller Welt verkauft. Der Co-Chefredakteur Felix Schmidt hielt diese Vermarktungsbemühungen damals in seinen Aufzeichnungen fest:

"Der stellvertretende Verlagsleiter Sorge macht Ende 1982 und zu Beginn des Jahres 1983 mehrere Reisen, um ausländische Zeitungen und Zeitschriften dafür zu gewinnen, das Material des 'Sterns' nachzudrucken. Er bietet in Paris, Tokio, Madrid und Mailand die 'Heß-Geschichte' an, die 'wahre' Geschichte des Heß-Fluges nach England, der nach einem vom 'Führer' selbst gebilligten Drei-Stufen-Plan durchgeführt worden sei. Dem 'Stern' sei neues, aufsehenerregendes Material zugänglich gemacht worden." Aufzeichnungen von Co-Chefredakteur Felix Schmidt

Buch über Heß-Enthüllungen geschrieben

Zwei von Heidemanns "Stern"-Kollegen schreiben sogar ein ganzes Buch über die "neuen" Enthüllungen zu Heß, das kurz darauf veröffentlicht werden sollte. Trotz unserer Bemühungen ist es uns leider nicht gelungen, ein Exemplar des Manuskripts aufzufinden. Die Geschichte ist so wichtig, dass man große Anstrengungen unternimmt, exklusive Bilder aufzutreiben. Nochmals Felix Schmidt:

"Gillhausen [Rolf Gillhausen, einer der 'Stern'-Chefredakteure, Anm. JG] kümmert sich nun intensiv um Bebilderung und Layout für die Geschichte. Er unternimmt enorme Anstrengungen, neue Bilder von Rudolf Heß im Spandauer Gefängnis zu bekommen, damit eine Aufrißzeichnung der Heß zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten gemacht werden kann. Das Foto wird - obwohl der Überflug verboten ist - aus einem Hubschrauber heraus gemacht." Aufzeichnungen von Co-Chefredakteur Felix Schmidt

Henri Nannen bestimmt die Dramaturgie

Der "Stern"-Herausgeber Henri Nannen schaltet sich in die Planungen ein und sorgt für eine andere Dramaturgie. Weil die Zeitschrift die Hitler-Serie über 30 Ausgaben ausbreiten will, ist es notwendig, das Interesse der Leser über mehrere Monate wach zu halten. Henri Nannen entscheidet, dass die erste Ausgabe in einer "Reportergeschichte" darüber berichtet, wie Heidemann die Tagebücher finden konnte.  Erst danach sollten die Heß-"Enthüllungen" veröffentlicht werden.

Die zweite Folge der Hitler-Serie erscheint am 5. Mai 1983 im "Stern" und enthält die "wahre" Geschichte des Heß-Fluges nach Großbritannien. Es ist faszinierend zu lesen, wie die "Stern"-Autoren Hitler aus der Sicht von Heß kritisieren. Sie werfen ihm vor, er habe gelogen, um seine ursprüngliche Zustimmung zu der angeblichen "Friedensmission" zu verschleiern. In ihrem Artikel stellen sie eine Freilassung von Heß aus dem Gefängnis in Spandau als eine Frage der Menschlichkeit dar. Der Artikel umfasst stolze 33 Seiten und wird von intensiver Werbetätigkeit begleitet, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits Zweifel an der Echtheit der "Tagebücher" aufgekommen sind. Einer der Chefredakteure des "Stern" tut sich sogar mit dem Sohn von Rudolf Heß zusammen, notiert Felix Schmidt in seinen Aufzeichnungen:

"Am 29. April fliegt Koch [Co-Chefredakteur Peter Koch, Anm. JG] in die USA, um, teilweise gemeinsam mit Rüdiger Heß, dem Sohn des in Spandau einsitzenden 'Stellvertreters des Führers', seine PR-Aktivitäten dem Höhepunkt zuzutreiben. Bei einem Telefongespräch sage ich ihm: 'Sie nehmen den Mund aber sehr voll, bei allen den Zweifeln, die aufgetaucht sind.' Koch: 'Wir müssen nach vorn durch.'“ Aufzeichnungen von Co-Chefredakteur Felix Schmidt

Heidemann ohne jede Distanz

Gerd Heidemann hat schon zuvor jede Distanz verloren und ist so sehr in die Bemühungen um Rudolf Heß involviert, dass er in den Monaten vor der "Stern"- Veröffentlichung so weit geht, mit der Sowjetunion über die Freilassung des Kriegsverbrechers zu verhandeln. Er glaubt, verlässliche Informationen über den Standort des legendären, seit dem Krieg verschollenen "Bernsteinzimmers" zu besitzen - dem Kunstschatz, den die Nationalsozialisten während des Krieges von der Sowjetunion geraubt haben. Er schlägt vor, dieses angebliche Geheimwissen im Austausch gegen die Freilassung des einstigen "Stellvertreters des Führers
" zu verraten.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Reschke Fernsehen | 23.02.2023 | 23:35 Uhr

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