Willy Brandts Ostpolitik und der Kniefall von Warschau
Als Bundeskanzler setzt sich Willy Brandt ab 1969 für die Verständigung mit Osteuropa ein und erhält dafür den Friedensnobelpreis. Mit seinem Kniefall in Warschau bittet er am 7. Dezember 1970 im Namen der Deutschen um Vergebung für die Verbrechen des Nazi-Regimes.
Die DDR ist kein demokratisch legitimierter Staat und kann Deutschland nach außen nicht vertreten - wer das Land dennoch anerkennt, muss im schlimmsten Fall mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen rechnen. Dieser Grundsatz der sogenannten Hallstein-Doktrin bestimmt seit 1955 die bundesdeutsche Außenpolitik. Für die DDR und ihre Bündnispartner gilt als Reaktion darauf der Grundsatz der Ulbricht-Doktrin: keine Verhandlungen ohne vorherige Anerkennung. Eine festgefahrene Situation, die den außenpolitischen Handlungsspielraum Bonns zunehmend einschränkt und eine deutsch-deutsche Annäherung unmöglich macht.
Auf dem Weg zur Aussöhnung mit Osteuropa
Willy Brandt und sein enger politischer Weggefährte Egon Bahr entwerfen bereits 1963 ein Konzept für eine Entspannungspolitik, die unter dem Motto "Wandel durch Annäherung" steht. Im Bundestagswahlkampf 1969 betonen der SPD-Spitzenkandidat Brandt und der FDP-Parteivorsitzende Walter Scheel, dass Deutschland allein wegen der Außenpolitik eine neue Regierung brauche.
Als Willy Brandt Bundeskanzler wird, macht er die Verständigung mit dem Osten zu einem seiner wichtigsten politischen Ziele. "Das deutsche Volk braucht den Frieden im vollen Sinne dieses Wortes auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens. Zu einem ehrlichen Versuch der Verständigung sind wir bereit, damit die Folgen des Unheils überwunden werden können, das eine verbrecherische Clique über Europa gebracht hat", stellt er in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 fest.
Die Aussöhnung mit den Staaten Osteuropas soll auch Grundlage für eine Annäherung der beiden Teile Deutschlands sein, deren Verhältnis aus der "gegenwärtigen Verkrampfung gelöst" werden solle. Erstmals spricht Brandt von der Existenz zweier deutscher Staaten.
Zähe Verhandlungen in Moskau
Der Schlüssel für eine Verständigung liegt in Moskau. Steht erst ein Vertrag mit der Sowjetunion, ist es einfacher, auch mit Warschau und Ost-Berlin zu einer Übereinkunft zu kommen. "Das von vielen europäischen Nachbarstaaten gefürchtete deutsch-russische Gespräch über ihre Köpfe hinweg war unvermeidbar, weil nur Moskau entscheidungsfähig und gesprächsbereit war", so Egon Bahr, damals Staatssekretär im Kanzleramt, rückblickend. Im Dezember 1969 reist er zu ersten Gesprächen über einen Gewaltverzicht in die sowjetische Hauptstadt. Die Verhandlungen gestalten sich zäh. Größtes Problem ist die Grenzfrage. Bonn ist zwar bereit, die Nachkriegsgrenzen anzuerkennen, die Chance auf eine Wiedervereinigung soll aber bestehen bleiben.
Die Lösung bringt schließlich der sogenannte Brief zur deutschen Einheit, den Brandt der sowjetischen Regierung am Tag der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags am 12. August 1970 im Kreml übergibt. Darin heißt es, "dass dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu den politischen Zielen der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europas hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Zusätzlich wird in der Präambel des Vertrags auf die UN-Charta verwiesen, die ebenfalls das Selbstbestimmungsrecht betont.
Berlin-Abkommen als nächste Hürde
Die Ratifizierung des Moskauer Vertrags knüpft die Regierung Brandt/Scheel an den Abschluss eines Abkommens der vier Siegermächte über Berlin, das insbesondere den freien Zugang von der Bundesrepublik nach West-Berlin garantieren und die Bindungen der Stadt an den Westen verstärken soll. Denn, so Brandt, "wenn wir Entspannung wollen, dann darf Berlin nicht ein Punkt des Kalten Krieges bleiben". Im September 1971 unterzeichnen die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin. Ein weiterer Schritt ist geschafft.
Große Geste: Willy Brandts Kniefall von Warschau
Parallel zu den Gesprächen mit Moskau nimmt Bonn im Februar 1970 den Dialog mit Polen auf. Zentrale Punkte sind ein Gewaltverzicht, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Aussiedlung von Deutschen.
Am 7. Dezember unterzeichnet Brandt in der polnischen Hauptstadt den Warschauer Vertrag. Am selben Tag besucht er das Mahnmal für den Aufstand im ehemaligen Warschauer Ghetto. Statt nur einen Kranz abzulegen, kniet er vor dem Denkmal nieder. "Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien - weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland", beschreibt Reporter Hermann Schreiber die Szene in einem Bericht im "Spiegel". Das Bild geht um die Welt und macht den Kanzler zu einem international anerkannten Friedenspolitiker. Dennoch ist das Echo in Deutschland auf die große Geste Brandts geteilt. Laut einer Blitzumfrage im Dezember 1970 halten nur 41 Prozent der Befragten den Kniefall für angemessen, 48 Prozent hingegen für übertrieben.
Über die Frage, ob der Kniefall geplant war, gibt es jahrelang Spekulationen. In seine Erinnerungen verneint Brandt das ganz klar: "Ich hatte nichts geplant, aber Schloss Wilanow, wo ich untergebracht war, in dem Gefühl verlassen, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen. Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt."
Brandt erhält den Friedensnobelpreis
Im Ausland verschafft sich Brandt mit seiner Entspannungspolitik und den hohen moralischen Ansprüchen Vertrauen und hohe Anerkennung. Das US-Magazin "Time" kürt ihn zum "Mann des Jahres 1970". Im 10. Dezember 1971 wird er in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. "Bundeskanzler Brandt hat als Chef der westdeutschen Regierung und im Namen des deutschen Volkes die Hand zu einer Versöhnung zwischen alten Feindländern ausgestreckt", heißt es in der Begründung. Als besondere Verdienste werden die Verträge von Moskau und Warschau sowie der Einsatz für die Rechte der Westberliner Bevölkerung genannt. Brandt nimmt die Auszeichnung gerührt entgegen und betont in seiner Dankesrede, wie viel es ihm bedeute, "nach den unauslöschlichen Schrecken der Vergangenheit den Namen meines Landes und den Willen zum Frieden in Übereinstimmung gebracht zu sehen".
Heftige innenpolitische Widerstände
Während das Ausland Brandts Kurs unterstützt, stößt er im Inland zum Teil auf heftigen Widerstand. Ein Großteil der Unionspolitiker lehnt die Ostverträge ab. Sie werfen der Regierung "einen Ausverkauf deutscher Interessen" vor und sehen die Freiheit der Bundesrepublik in Gefahr. Als die Nachricht von der Vergabe des Friedensnobelpreises während einer Bundestagssitzung bekannt wird, erhebt sich nur ein Teil der Abgeordneten und applaudiert. Die Mehrheit der Opposition bleibt schweigend sitzen. In der Presse werden sogar Verdächtigungen laut, einige Stimmen des Nobelpreis-Komitees seien gekauft worden.
Der lange Weg zur Ratifizierung der Verträge
Wegen des Widerstands der Union gegen die Ostverträge wird die Ratifizierung im Bundestag zur Hängepartie. Nachdem mehrere Abgeordnete von SPD und FDP zur CDU übergelaufen sind, verfügt die Regierung Ende Januar 1972 - nur wenige Tage vor Beginn der ersten Lesung - nur noch über eine knappe Mehrheit von vier Stimmen. Als am 23. April ein weiterer FDP-Abgeordneter seine Partei verlässt und ein anderer ankündigt, nicht für die Ostverträge zu stimmen, hat Brandt keine Mehrheit mehr.
Die CDU nutzt die Situation und versucht, Brandt mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zu stürzen. Am 27. April 1972 findet die Abstimmung statt - Brandt gegen Rainer Barzel. Die Opposition gibt sich siegessicher, aber ihr fehlen schließlich zwei Stimmen zur Mehrheit. Brandt bleibt im Amt.
Das Ringen um die Ostverträge ist damit aber noch nicht beendet. Um sie möglichst schnell durchs Parlament zu bringen und die Opposition zumindest zur Stimmenthaltung zu bewegen, lässt sich die Regierung auf eine gemeinsame Entschließung mit der Opposition ein, in der unter anderem das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung erneut hervorgehoben wird. Der Text, so Brandt, "geht an die Grenzen dessen, was ich noch verantworten kann", ebnet aber den Weg zu einer erfolgreichen, wenn auch denkbar knappen Abstimmung. Am 17. Mai passieren die Ostverträge mit jeweils 248 Ja-Stimmen den Bundestag.
Grundlagenvertrag regelt das Verhältnis zur DDR
Im November unterzeichnen die Bundesrepublik und die DDR den Grundlagenvertrag, der neben einem Gewaltverzicht die Einrichtung "ständiger Vertretungen" vorsieht und die Absicht beider Länder bekräftigt, praktische und humanitäre Fragen vertraglich zu regeln. Damit hat Brandt die Ziele seiner Entspannungspolitik erreicht.
Ein überwältigender Wahlsieg
Wegen des Patts im Bundestag einigen sich Regierung und Opposition im Spätsommer auf Neuwahlen, die für den 19. November angesetzt werden. Im Wahlkampf setzt die SPD voll auf den Kanzler als Zugpferd, Buttons und Sticker mit dem Slogan "Willy wählen" werden verteilt, zahlreiche Prominente wie Günter Grass, Heinrich Böll, Inge Meysel und Sebastian Haffner unterstützen den Kanzler in einer sozialdemokratischen Wählerinitiative. Mit 45,8 Prozent erzielt die SPD - bei einer Wahlbeteiligung von mehr als 91 Prozent - ihr bislang bestes Ergebnis und ist damit erstmals stärkste Fraktion im Bundestag - für Brandt ein später Triumph und ein klares Votum für seine Ostpolitik. "Der Kampf um die Verträge hatte die Wahl entschieden", schreibt er später in seinen Erinnerungen.