Button mit dem kreisförmigen Friedenssymbol. © picture-alliance / dpa Foto: Kay Nietfeld

"Angst vor Krieg ist heute schwer vermittelbar"

Stand: 20.04.2019 10:45 Uhr

Seit mehr als 60 Jahren demonstrieren Menschen in Deutschland regelmäßig für den Frieden. Einer, der von Anfang an dabei war, ist der Hamburger Sönke Wandschneider, inzwischen Pastor im Ruhestand.

Wandschneider demonstrierte erstmals Ende der 1950er-Jahre in Hamburg für den Frieden. In den 1970er-Jahren protestierte er als "Brokdorf-Pastor" im Talar gegen Atomkraft und bekam viel Ärger in seiner Kirche. Bis heute organisiert er Ostermärsche und Friedensdemos. Und auch mit 78 Jahren tritt er dort in diesem Jahr wieder als Redner auf, um für den Frieden zu werben. Was treibt ihn an, was hat sich in all den Jahren geändert? Darüber spricht Wandschneider im Interview mit NDR.de.

Sie waren vor 60 Jahren auf Ihrer ersten Friedensdemo. An was erinnern Sie sich?

Sönke Wandschneider  Foto: Oliver Diedrich
"Krieg ist Mord, nichts anderes", meint Pastor i.R. Sönke Wandschneider, der sich seit 60 Jahren für den Frieden einsetzt.

Sönke Wandschneider: Es versammelten sich damals ungefähr 100.000 Menschen auf dem Rathausmarkt in Hamburg. Es ging um "Kampf dem Atomtod". Verschiedene Gruppen hatten dazu aufgerufen, weil die Bundeswehr mit Atomwaffen ausgerüstet werden sollte. Der damalige Verteidigungsminister Strauß wollte das und Bundeskanzler Adenauer unterstützte ihn dabei. Dagegen gab es von Gewerkschaften, SPD und kirchlicher Seite sehr viel Protest. Die Bewaffnung mit Atomwaffen, mit solchen Massenmordmaschinen - anders kann man sie nicht nennen - erschien uns völlig unsinnig und aberwitzig angesichts des gerade zu Ende gegangenen großen Krieges.

Wie haben Sie damals von der Demonstration erfahren und was hat Sie persönlich bewogen, daran teilzunehmen?

Wandschneider: Ich war in verschiedenen christlichen Jugendorganisationen in Hamburg tätig, die die Veranstaltung mit organisierten. Ich war interessiert an pazifistischen Konfliktlösungen. Ich wollte, dass Deutschland nicht wieder in den nächsten Krieg schliddert. Mein Vater ist ein halbes Jahr nach meiner Geburt in Lettland von Partisanen erschossen worden, obwohl er in einem Rote-Kreuz-Auto als Arzt unterwegs war. Meine Mutter, die dann Witwe mit fünf Kindern war, bekam damals einen Feldpostbrief seines Vorgesetzten. Der sollte sie trösten - mit dem Hinweis, dass für seinen Tod zwölf Russen an die Wand gestellt wurden. Das habe ich mit zwölf Jahren erfahren. Ich fand es ungeheuerlich, dass das ein Trost sein sollte, dass man Männer, die auch Familie hatten, ermordete. Krieg ist Mord, nichts anderes. Es ist Massenmord.

Bis heute organisieren Sie selbst Ostermärsche und Friedensdemos. Früher kamen Zehntausende Teilnehmer. Wie hat man damals diese vielen Menschen mobilisiert, als es noch kein Internet gab?

Wandschneider: Das war ganz traditionell: Man telefonierte, man kopierte mit Wachsmatrizen und zog die ab und verteilte Flugblätter. Man musste natürlich sehr viel langfristiger planen. Heute kann man in einen Copyshop gehen und die Flugblätter gleich mitnehmen. Man kann über das Internet und die sogenannten sozialen Medien in kürzester Zeit viel mehr Menschen erreichen. Aber dadurch, dass man sich das damals weiter erzählte und die Verbindung zwischen den einzelnen Menschen und Gruppierungen funktionierte, hat es da auch geklappt. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, weil man mit der Schnelligkeit des Internets so vertraut ist.

Sönke Wandschneider  Foto: Oliver Diedrich
AUDIO: Gespräch mit Sönke Wandschneider in voller Länge (35 Min.) (35 Min)

Wurde damals auch in den Kirchen zu Ostermärschen aufgerufen?

Wandschneider: Innerhalb der Kirchen war die Friedenbewegung leider auch eine Minderheit. Das ist über viele Jahre so geblieben. Es gab eine kleine Zeit, wo es in vielen Gemeinden Friedensgruppen gab. Das war die Hoch-Zeit der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren bis Anfang der 90er-Jahre, als es auch darum ging, die Nachrüstung zu beenden und den Kalten Krieg nicht wieder aufflammen zu lassen. Damals hat es ja auch richtig Abrüstung gegeben.

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Protestierende nehmen am 15.April 1963 in Hamburg am Ostermarsch teil. © picture alliance/ dpa Foto: Günter Klimiont

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Hat sich angesichts der sehr veränderten weltpolitischen Lage die Stimmung bei den Ostermärschen verändert - über die vergangenen Jahrzehnte?

Wandschneider: Zu Anfang war es ja so, dass der Protest gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr im Vordergrund stand. Das wurde getragen durch Menschen, die noch direkte Kriegserinnerungen hatten. Es gab Ende der 1950er-Jahre überall noch Trümmer - auch in Hamburg. Es gab viele Familien, die ihre Väter verloren hatten - oder wo die Mütter im Bombenhagel umgekommen waren. Heute sind wir zwei, drei Generationen weiter. Für junge Menschen ist heute die Erinnerung an den Krieg höchstens noch über die Großeltern vorhanden.

Button mit dem kreisförmigen Friedenssymbol. © picture-alliance / dpa Foto: Kay Nietfeld
AUDIO: Der erste deutsche Ostermarsch (4 Min)

Dass heute viel weniger Menschen zu solchen Protesten kommen, könnte also damit zu tun haben, dass die Leute keinen Krieg selbst erlebt haben?

Wandschneider: Das glaube ich schon. Wir erleben zwar zunehmend Kriege im Fernsehen mit, aber das betrifft uns nicht so - wenn ich gleichzeitig aus dem Fenster gucke und sehe: Bei uns steht alles noch, bei uns laufen keine Krüppel rum. Es ist eine andere Situation als nach 1945. Die Angst davor, dass sich so etwas wiederholt, ist jungen Leuten heute ganz schwer vermittelbar.

Gab es in den vergangenen Jahrzehnten politische Entwicklungen, die sie positiv gestimmt haben, wo sie dachten - jetzt wird die Welt friedlicher?

Wandschneider: Mich hat das Ende des Blockdenkens USA gegen Sowjetunion um 1990 mit der Hoffnung beseelt, dass jetzt vielleicht so etwas wie Abrüstung einsetzen könnte. Und dass diese Konfrontation zwischen den beiden Supermächten ein Ende haben würde. Das schien ja auch zunächst so. Und man konnte sich überlegen: Brauchen wir eigentlich noch eine Bundeswehr - oder können wir auch da abrüsten? Das war verbunden mit der Hoffnung, dass man das eingesparte Geld für soziale Projekte und Entwicklungshilfe ausgeben könnte. Die Hoffnung war groß. Sie ist dann relativ schnell enttäuscht worden, weil die NATO diese Chance nicht begriffen hat und rund um Russland viele neue Stützpunkte aufgebaut hat. Und die Angst vor den Russen wird weiter geschürt.

Die NATO argumentiert: Wenn wir da nicht wären, würde sich Russland vielleicht weitere Gebiete einverleiben - Stichwort Krim ...

Wandschneider: Ich denke, die ganze Abschreckungslogik - wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter - ist völlig irre. Man kann dem anderen zwar damit drohen, ihn total zu vernichten. Aber man läuft in dieser Logik Gefahr, dass man hinterher selbst ein Trümmerhaufen ist. Und unendlich viele Tote zu beklagen hat. Ich drohe mit meinem potenziellen Selbstmord. Und ich muss das glaubwürdig tun - also ständig ein solches Arsenal an Waffen bereithalten, dass der andere mir das abnimmt. Ich halte das für paranoid und irrwitzig.

Glauben Sie, dass das Demonstrieren bei den Ostermärschen dagegen etwas bewirkt? Warum machen Sie das jedes Jahr?

Wandschneider: Das fragt man sich manchmal selbst. Aber wenn man etwas von seinen Vorfahren gelernt haben sollte, dann vielleicht, dass man einigermaßen aufrecht in den Spiegel gucken können muss. Auch wenn ich weiß: Ich bin in der Minderheit, ich bewirke wenig oder vielleicht sogar gar nichts. Ich war zumindest auf der Seite derjenigen, die nicht für weitere Zerstörung, für weiteres Elend gesorgt haben. Und die die richtigen Schritte fordern. So wie die Schüler das jetzt neuerdings tun, die massive politische Schritte fordern zur Vermeidung der Klimakatastrophe.

Die "Fridays for Future"-Bewegung wird teilweise heftig kritisiert, weil die Schüler in der Schulzeit demonstrieren. Sie selbst haben mit Demo-Auftritten im Talar früher Ihre Kirche verärgert. Muss man provozieren, um durch Protest etwas zu erreichen?

Wandschneider: Wir provozieren ja nicht in dem Sinne, dass wir Scheiben einschmeißen oder völlig unsinnige Forderungen erheben. Wir erheben auf den Ostermärschen allerdings Forderungen, die den Rahmen unserer bisherigen sogenannten Sicherheitspolitik sprengen. Einen Austritt aus der NATO zu fordern, ist schon eine Provokation. Viele sagen: Seid ihr noch ganz bei Trost? Aber auch kleinere Schritte werden nicht gewagt - zum Beispiel einen Vertrag gegen Herstellung und Besitz von Atomwaffen zu unterzeichnen - aus Angst, es sich mit den USA zu verderben. Insofern sind alle Schritte, die eigentlich der gesunde Menschenverstand erwartet, Provokationen.

Ist es als Aktivist erlaubt, Verbotenes zu tun für die "gute Sache"?

Wandschneider: Ich habe mich selbst schon an Sitzblockaden beteiligt vor militärischen Standorten oder in Gorleben auf den Gleisen gesessen. Ich habe also dazu beigetragen, dass der reibungslose Ablauf in diesen Einrichtungen nicht erfolgen konnte und bin auch weggetragen worden von Polizisten. Ich bin für gewaltfreien Widerstand. Es dürfen keine Menschen verletzt oder gefährdet werden. Wenn es darum geht, den reibungslosen Ablauf von Todesmaschinerien zu stören - da bin ich dafür.

Wenn Sie nicht Pastor wären, sondern vielleicht Bundeskanzler: Welche ersten Schritte würden Sie unternehmen, um die Welt friedlicher zu machen?

Wandschneider: Abrüsten! Und massiv dazu beitragen, dass das wieder hoch gepushte Feindbild Russland abgebaut wird. Ich halte die ganze Aufrüstung angesichts der Probleme, die wir weltweit haben, für ein Verbrechen. Das ist unnützes Geldausgeben. Das ist mörderisches Geldausgeben. Ein so reiches Land wie Deutschland muss seine Stärke dafür einsetzen, dass das menschliche Leben menschlicher wird und dass Konflikte gewaltfrei gelöst werden.

Das Interview führte Oliver Diedrich für NDR.de.

Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | NDR 90,3 Aktuell | 22.04.2019 | 14:00 Uhr

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