Das erste Motorrettungsboot der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS), "Oberinspector Pfeifer", während eines Einsatzes auf der Kieler Förde. (Undatierte Aufnahme) © picture alliance / dpa | DGzRS

Vom Strandraub zur Seenotrettung

Stand: 14.01.2022 15:33 Uhr

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts leben viele Küstenbewohner vom Strandgut havarierter Schiffe. Hilfe für Seeleute bleibt aus. Das ändert sich mit Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) 1865 in Kiel.

von Dirk Hempel

Jährlich rund 50 Segelschiffe geraten an der deutschen Nordseeküste Mitte des 19. Jahrhunderts in Seenot. Aber nur ein einziges Rettungsboot ist im Einsatz. Auch mangelt es an Leuchttürmen und Seezeichen, die den Seeleuten den Weg zwischen Sandbänken und Untiefen, durch Nebel und Sturm weisen könnten.

Strandgut ist gern gesehenes Zubrot

Strandräuber ziehen einen Wagen mit Strandgut durch die Dünen (Gemälde von Hinrich Wrage).
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts leben viele Küstenbewohner von Strandraub.

An den Küsten hält sich noch immer das überlieferte Strandrecht, nach dem der Finder die von ihm geborgenen Teile eines Wracks oder auch der Ladung behalten darf. Zwar wünscht niemand Schiffbrüchigen den Tod - dennoch ist das Strandgut ein gern gesehenes Zubrot. "Gott segne den Strand", beten Bauern und Fischer in ostfriesischen Kirchen.

Der Untergang der "Alliance" läutet Wende ein

Den Beginn einer Kehrtwende gibt es 1860. Am Morgen des 10. September strandet die hannoversche Brigg "Alliance", die Kohlen von England nach Geestemünde bringen soll, vor Borkum. Melkerinnen hören die Hilferufe der neunköpfigen Besatzung. Einige Dorfbewohner geben sie vor den Badegästen als Gespenstergeschrei in den Dünen aus, während andere Insulaner schon am Strand auf Treibgut lauern. Augenzeugen, die trotzdem an den Strand geeilt sind, müssen mit ansehen, wie die Seeleute nach und nach von der Brandung über Bord gespült werden und ertrinken. Ihre Leichen liegen noch lange am Strand, während die Borkumer das Wrack plündern.

Aufgerüttelte Bürger gründen die DGzRS

Die Gründerväter der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger Adolph Bermpohl, Georg Breusing und Arwed Emminghaus. © DGzRS/Die Seenotretter Foto: DGzRS
Engagierte Bürger und Gründer der DGzRS: Adolph Bermpohl, Georg Breusing und Arwed Emminghaus.

So berichten Zeitungen in ganz Deutschland und empören sich über diese "mittelalterliche Barbarei". Die Artikel liest auch ein Navigationslehrer an der Seefahrtsschule in Vegesack, Adolph Bermpohl, und fordert in Aufsätzen die Einrichtung von Rettungsstationen nach britischem Vorbild. Zwischen Emden und Sylt, Flensburg und Memel setzt nun ein Umdenken ein. Die Küstenbewohner finden sich endlich bereit, Seeleuten, die in Not geraten sind, zu helfen, und aufgerüttelte Bürger wie der Zollinspektor Georg Breusing in Emden gründen örtliche Vereine.

Die treibende Kraft beim Zusammenschluss der regionalen Stationen am 29. Mai 1865 zur "Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger" in Kiel wird der Bremer Journalist Arwed Emminghaus. Den Vorsitz übernimmt der Reeder und Mitbegründer des Norddeutschen Lloyd, Hermann Henrich Meier.

100.000 Taler für 50 Rettungsstationen

Die DGzRS, die ihre Zentrale in Bremen einrichtet, benötigt 100.000 Taler, um zunächst 50 Stationen einzurichten, zusätzlich jährlich bis zu 15.000 Taler für die laufenden Kosten. Der Vorstand entwickelt schon damals ein zweigleisiges Spendenmodell, das noch heute gilt: Während Meier auf 1.000-Taler-Spenden setzt, favorisiert Emminghaus den Aufruf zu Klein- und Kleinstspenden, die bald aus ganz Deutschland eintreffen und den Aufbau des Rettungswerks vorantreiben. Seit 1875 gibt es dafür das schwarz-weiß-rote Sammelschiffchen, das schon damals sogar in Bayern und Österreich aufgestellt wird.

Rettung mit der "Hosenboje"

Eine Mitarbeiterin des Heimatmuseums Wolgast zeigt 2006 eine sogenannte Hosenboje zur Rettung Schiffbrüchiger aus der Zeit um 1870. © picture-alliance/ ZB Foto: Stefan Sauer
Ein einer "Hosenboje" wurden Schiffbrüchige an Land gezogen.

Im Jahr nach der Vereinsgründung retten die Männer an Nord- und Ostsee 141 Menschen aus Seenot. Am 14. Januar 1866 etwa birgt das Memeler Rettungsboot 15 Menschen von der preußischen Bark "Marianne", am 18. Juni holen Wustrower Rettungsmänner vier Seeleute von dem russischen Schoner "Constantin".

Die DGzRS setzt 1866 insgesamt 122 Rettungsboote ein - und auch 19 Rettungsgeschütze: Mit Raketen, die das königlich preußische Feuerwerkslaboratorium Spandau fertigt, werden dabei Leinen vom Strand aus zu havarierten Schiffen hinübergeschossen, bis zu 500 Meter weit. Über diese Verbindung werden Schiffbrüchige dann in einem Rettungsring mit angenähter Hose, der sogenannten Hosenboje, an Land gezogen.

Seenotrettung per Ruderboot

Eine historische Fotografie zeigt ein Ruderrettungsboot auf einem Ablaufwagen. © DGzRS/Die Seenotretter Foto: DGzRS
Die Boote werden oft von Pferdegespannen hunderte Meter weit durch die Dünen gezogen, bevor die Rettungsmänner durch die Brandung hinausrudern.

Die Männer leisten Schwerstarbeit. Meist ziehen zunächst Pferde das Boot vom Schuppen durch den Dünensand an den Strand, oft hunderte Meter weit, dann rudern die sechs bis zehn Mann Besatzung unter äußerster körperlicher Anstrengung durch die gefährliche Brandung hinaus. Sie tragen Ölzeug mit Südwester zum Schutz gegen das kalte Seewasser. Eine dicke, um den Oberkörper geschnallte Korkweste soll vor dem Ertrinken schützen. Das eigens entwickelte "Deutsche Normalrettungsboot" misst acht Meter Länge und zweieinhalb Meter Breite. Es ist aus Stahlblech hergestellt und wiegt nur 1.350 Kilogramm. Mit einem Tiefgang von 35 Zentimetern ist es auch für flache Strandgebiete geeignet.

Ein Einsatz kann viele Stunden dauern. Im November 1880 etwa rudern die Rettungsmänner von Süderhöft in Nordfriesland im Gewittersturm zu einem gestrandeten Segelschiff hinaus. Nach 14 Stunden kehren sie zurück. Der Einsatzbericht vermerkt: "Erst nachmittags, 4 Uhr, kamen wir wieder auf der Station an, vollständig durchgefroren, gänzlich erschöpft."

Viele Helfer sterben im Einsatz

Das Boot kann nicht sinken, weil es außen von einem Korkgürtel umgeben ist und innen mit Luftkästen versehen. Aber die Seeleute können etwa über Bord gespült werden. Von 1869 bis 1918 sterben 21 Rettungsmänner auf See. Bis heute sind 45 Menschen im Einsatz tödlich verunglückt. Auch wenn die Schiffe mit den Jahrzehnten immer leistungsfähiger und sicherer werden, sich mittlerweile nach einem Kentern selbst aufrichten können, fordert der Dienst noch immer Menschenleben. So etwa 1995, als der Rettungskreuzer "Alfried Krupp" im Orkan vor Borkum in hoher See querschlug und durchkenterte. Vormann und Maschinist wurden von den Wellen über Bord gespült, ihre Leichen erst lange nach dem Unglück an Land getrieben.

Spender und Freiwillige werden Rückgrat der Seenotretter

Ein Sammelschiffchen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger steht am Hafen auf einem Tau. © DGzRS/Die Seenotretter Foto: Sven Junge
Von Anfang an finanziert sich die Gesellschaft durch Spenden. Die Sammelschiffchen gibt es seit 1875.

In der Frühzeit der DGzRS bedeuten schon die in den 1870er-Jahren entwickelten Segelrettungsboote einen Fortschritt. Sie sind in Büsum, Cuxhaven und Dorumertief stationiert und verfügen bereits über Schutzräume an Deck. 1890 hat die Gesellschaft 111 Rettungsstationen an Nord- und Ostsee, in denen mehr als 1.000 Freiwillige Dienst tun. Fast 50.000 fördernde Mitglieder unterstützen sie mit Geldspenden.

Erstes Motorboot der DGzRS kommt 1911

Eine historische Fotografie zeigt das Motorrettungsboot "Oberinspector Pfeiffer" auf dem Wasser. © DGzRS Foto: DGzRS
Mit Motorrettungsbooten kann die DGzRS ab 1911 auch in weiter Entfernung von der Küste Seeleute retten.

Als im März 1911 vor Laboe in der Ostsee das erste, zehn Meter lange Motorboot nach britischem Vorbild fährt, kommt das einer technischen Revolution gleich. Das Einsatzgebiet kann nun weiter ausgedehnt, Menschen auch aus strandfernen Seenotfällen gerettet werden. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfügt die DGzRS bereits über 14 motorisierte Rettungsboote. In den 20er-Jahren folgen zahlreiche weitere, die mit Funk ausgestattet sind und von Land aus dirigiert werden können. Während des Zweiten Weltkriegs sind die Seenotretter der 34 Nordsee- und 67 Ostsee-Stationen weiterhin im Einsatz. Die Boote sind nun mit einem roten Kreuz versehen, stehen unter dem Schutz der Genfer Konvention und retten weiterhin Seeleute aller Nationen - sowie auch über See abgeschossene Flieger der Kriegsgegner.

Innovativer Schiffstyp: Rettungskreuzer richtet sich selbst auf

Eine historische Fotografie zeigt den Seenotkreuzer "Theodor Heuss". © DGzRS/Die Seenotretter Foto: DGzRS
Nach ihrer Indienststellung war die "Theodor Heuss" zunächst auf Borkum stationiert, später dann in Laboe.

Nach 1945 ist die DGzRS weiterhin in der Deutschen Bucht und in der westlichen Ostsee im Einsatz. Der Seenotrettungsdienst der DDR hingegen wird bis zur Wiedervereinigung 1990 staatlich organisiert. In den 1950er-Jahren baut die Gesellschaft dann einen neuen Seenotrettungskreuzer-Typen mit Tochterboot, das auch im Flachwasser einsetzbar ist. Das Typschiff "Theodor Heuss", 1957 in Dienst gestellt und bis 1985 für die DGzRS im Einsatz, kann sich unter anderem selbst aufrichten. In der Weiterentwicklung werden die Rettungskreuzer der neuen Typ-Klasse immer vielseitiger und sicherer.

VIDEO: Seenotrettungskreuzer "Theodor Heuss" im Emder Hafen (10.05.1961) (1 Min)

Seenotretter haben bereits 85.600 Menschen geholfen

Über 86.000 Menschen verdanken den Mitarbeitern der DGzRS in den bald 157 Jahren seit ihrer Gründung Rettung und schnelle Hilfe. Allein 2021 waren die Seenotretter in 2.023 Fällen auf Nord- und Ostsee im Einsatz und haben eigenen Angaben zufolge rund 3.500 Menschen Hilfe geleistet. Etwa 330 von ihnen wurden demnach aus Seenot oder anderen Gefahren befreit. Heute sind die Seenotretter mit rund 60 Booten im Einsatz. Die private Initiative, die 1865 zur Gründung der DGzRS führte, ist bis heute ihre Grundlage. Auch wenn der Bundespräsident traditionell als Schirmherr auftritt, liegt die Organisation noch immer in den Händen der ausschließlich aus Spenden finanzierten Gesellschaft, ihrer 180 festangestellten und mehr als 800 freiwilligen Rettungsmänner und -frauen.

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Unsere Geschichte | 13.02.2021 | 12:00 Uhr

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