Stand: 18.05.2015 16:46 Uhr

Sie waren Künstler - nicht nur Opfer

Der Kapo hatte gute Laune an diesem kalten Wintertag im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau: "Wollt ihr euch wärmen?", fragte er Yehuda Bacon und die anderen Kinder und deutete auf die Gaskammer. Yehuda ging auf das Angebot ein. "Ich war ein neugieriges Kind", sagt er. "Ich wollte wissen, wie alles funktioniert, wie der Ort aussieht."

Er inspizierte alles ganz genau und bekam so einen Eindruck von dem sonst hermetisch abgeriegelten Ort. Er ließ sich von Mitgliedern des Sonderkommandos die Holzknöpfe an den Wänden erklären. Und er erkannte, dass die Löcher in den Duschköpfen nur Attrappen waren. Auf dem Dach durfte er die Luke öffnen, durch die das Gas geworfen wurde und blickte in den schwarzen Raum hinab.

Diese Bilder brennen sich im Gedächtnis des damals 14-Jährigen ein. Er hält diese Erinnerungen auf Papier fest - so detailliert und exakt, dass die Zeichnungen später beim Eichmann-Prozess 1961 als Beweismittel zugelassen werden.

Den Holocaust künstlerisch verarbeiten

Ein Besucher betrachtet die Werke in der Ausstellung "Der Tod hat nicht das letzte Wort" in Berlin © NDR.de Foto: Carolin Fromm
Noch bis zum 28. Februar sind die Werke Bacons und der anderen Künstler in Berlin zu sehen.

Bacon und seine Bilder stehen im Mittelpunkt der Ausstellung, die im Bundestag anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung Auschwitz am 27. Januar eröffnet wurde. In der Ausstellung "Der Tod hat nicht das letzte Wort - Niemand zeugt für den Zeugen" werden Kunstwerke von Opfern, Ermordeten und Überlebenden des Holocaust gezeigt. Zur Eröffnung betonte Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth: "Diese Kunst wird die Zukunft noch prägen und muss sie prägen! Sie erzählt die Geschichte der Weitergabe." Die Ausstellung sei eine Dokumentation des Lebens und zeige die Kraft der Kunst.

Bacon, der selber auch zur Eröffnung nach Berlin gereist war, berichtete von seinem Antrieb, den Schrecken des NS-Terrors auf Papier zu bringen: "Ich wusste nicht, wie man so etwas erzählen kann, ohne den anderen in Schock zu versetzen. Dann begann ich zu zeichnen."

Welche Rolle kann die Kunst bei der Erinnerung spielen?

Nicht nur über der Ausstellung schwebt die Frage, wie wir uns künftig an den Holocaust im Allgemeinen und Auschwitz im Speziellen erinnern wollen, wenn auch die letzten Augenzeugen nicht mehr unter uns sind? Und welche Rolle kann die Kunst dabei spielen?

Interview
Yehuda Bacon © NDR.de Foto: Judith Pape
1 Min

"Wir wussten genau, dass niemand lebendig rauskommt"

Als Kind wurde Yehuda Bacon nach Auschwitz deportiert. Er glaubte nicht, dass jemand das KZ überlebt. Darum begann er, den Ort für die Nachwelt auf Papier zu zeichnen. 1 Min

So werden in der Ausstellung auch - und das ist der entscheidende Punkt - Werke der nachfolgenden Generation, die der Kinder, Enkel und Erben gezeigt. Zeichnungen von Bacon hängen in Reichweite zu Bildern von Peter Kien. Dem Mann, der dem zwölfjährigen Yehuda in Theresienstadt das Zeichnen beigebracht hatte. Beide kamen nach Auschwitz, Kien starb, Bacon überlebte. Er ging nach Jerusalem, wurde Künstler und Lehrer an der Bezalel Akademie. Dort lehrte er Sigalit Landau das Zeichnen. Sie gilt heute als eine der weltweit einflussreichsten zeitgenössischen Künstlerinnen. Ihre Plastiken bilden einen spannenden Kontrast in der Ausstellung. Somit werden drei Generationen im Bundestag zusammengeführt. Sie alle eint die künstlerische Verarbeitung des Holocausts bis in unsere Gegenwart und sorgen so dafür, dass das Grauen nicht in Vergessenheit gerät.

Die Kunstwerke werden ergänzt durch kurze Filme, in denen Menschen, die zum Beispiel heute für die Gedenkstätte in Auschwitz arbeiten, einen Bezug zu dem Ort in der Gegenwart herstellen. Diese Statements, die gleichsam eine Führung durch das ehemalige KZ anbieten, hat der NDR im Rahmen des ARD-Projekts "Auschwitz und Ich" produziert.

Aus der Perspektive der Nazis lösen

Interview

"Auch nach Auschwitz darf es Kunst geben"

Yehuda Bacon bemüht sich bis heute, auch das Positive im Grauen zu sehen. 1 Min

Für den Kurator Jürgen Kaumkötter geht mit der Ausstellung ein kleiner Traum in Erfüllung. Lange hatte der Osnabrücker das Konzept gehegt. Seit über 15 Jahren beschäftigt sich der Kunsthistoriker mit der "Kunst der Katastrophe". Er wünscht sich, dass die Werke, die im unmittelbaren oder mittelbaren Einflussbereich des Nazi-Terrors entstanden sind, differenzierter wahrgenommen werden. "Bislang wird die Kunst rein historisch betrachtet, der künstlerische Aspekt wird komplett ausgeblendet." Damit blieben die Bilder Opferkunst und weiter nur aus der Perspektive der Nazis betrachtet, so Kaumkötter. "Die Besucher sollen aus der Ausstellung rausgehen und sagen, 'Mensch, das ist ein toller Künstler, der Yehuda' und nicht nur, 'Ach, was ist das für ein armer Mensch'."

Krakau und Yad Vashem sind die weiteren Stationen

Das macht seine Ausstellung möglich, denn sie präsentiert die große Vielfalt der Künstler. Sie zeigt die schlichten Alltagsszenen aus dem KZ, die zarten Porträts der Häftlinge gegenüber den mit Symbolik und Metaphern aufgeladenen Bildern aus der Nachkriegszeit. Sie zeigt die Schaffenskraft und Kreativität von Künstlern, die der Nazi-Terror nicht auslöschen konnte.

Die Ausstellung ist mittlerweile - erweitert und ergänzt - in Krakau zu sehen. Sie rückte damit näher an den Ort des Grauens: Die KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ist nur wenige Kilometer entfernt. Nach ihrer Zeit in Krakau zieht die Ausstellung weiter in die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

Weitere Informationen
Jürgen Kaumkötter © NDR.de Foto: Judith Pape
1 Min

"Auschwitz ist ein großer Friedhof"

Der Kurator Jürgen Kaumkötter hat schon viele Ausstellungen zum Holocaust organisiert. Für ihn ist Auschwitz auch ein großer Friedhof. Und die Friedhofsruhe sei zu achten. 1 Min

Bilder von Häftlingen zu sehen in einer Baracke der Gedenkstätte Auschwitz © NDR Foto: Christian Spielmann

Für das Leben lernen: Auschwitz und Ich

Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz hat der NDR im Jahr 2015 das Projekt Auschwitz und ich betreut. Hier finden sich viele der damals entstandenen Videos und Online-Artikel. mehr

Dieses Thema im Programm:

7 Tage | 28.01.2015 | 00:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

NS-Zeit

Ausstellungen

Mehr Geschichte

Journalisten inspizieren am 22. April 1994 eine Telefonzelle in Berlin Treptow, in der am Morgen der Kaufhaus-Erpresser "Dagobert" von Spezialkräften festgenommen wurde. © picture alliance / AP Foto: Jockel Finck

Vor 30 Jahren: Kaufhaus-Erpresser "Dagobert" wird geschnappt

Einer der spektakulärsten Erpressungsfälle der deutschen Kriminalgeschichte endet am 22. April 1994. Rund zwei Jahre lang narrte "Dagobert" die Polizei. mehr

Norddeutsche Geschichte