Von SS ermordetes Kind hat jetzt ein Gesicht
Wer war "W. Junglieb"? Diese Frage hat Bella Reichenbaum nach ihrem Besuch der Hamburger Gedenkstätte Bullenhuser Damm in diesem Jahr nicht mehr losgelassen. "W. Junglieb" steht auf einem der 20 Koffer, die dort in einer Ausstellung an die jüdischen Kinder erinnern, die von den Nazis für medizinische Experimente missbraucht und später im Keller der ehemaligen Schule im Stadtteil Rothenburgsort erhängt wurden. Reichenbaum und ihr Mann Jitzhak fahren regelmäßig von Israel aus dorthin, um seines Bruders Eduard zu gedenken, der eines der ermordeten Kinder gewesen ist.
Direkt neben Reichenbaums Erinnerungskoffer, der von dem mit Fotos illustrierten Schicksal des Jungen erzählt, liegt der von "W. Junglieb" - ohne Fotos und mit kurzem Text. Denn bislang war über dieses Kind nur bekannt, dass es angeblich aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte und zwölf Jahre alt war, als es am Bullenhuser Damm starb. Dank der Recherche von Bella Reichenbaum wird der Koffer nun neu gestaltet. Denn sie hat herausgefunden, wer "W. Junglieb" war - und Kontakt zu dessen heute 85-jähriger Schwester hergestellt.
Wie Reichenbaums Nachforschungen ergeben haben, heißt "W. Junglieb" mit vollem und richtigem Namen Walter-Jacob Jungleib und stammte aus Hlohovec, das nicht etwa im ehemaligen Jugoslawien liegt, sondern in der heutigen Slowakei. Seine Schwester Grete Hamburg lebt mittlerweile in der Nähe von Tel Aviv, etwa 100 Kilometer vom Wohnsitz der Reichenbaums entfernt. Auch sie wusste bislang nichts vom Schicksal ihres Bruders, sondern ging davon aus, er sei bei einem Todesmarsch von Auschwitz gestorben.
Schwester "erschüttert und fassungslos"
Im Oktober 1944 war Grete zunächst gemeinsam mit ihrem Bruder und den Eltern deportiert worden, dann wurden sie und ihre Mutter von Vater und Bruder getrennt. "Walter hatte seine Kappe vergessen und ist zurückgekommen, um sie zu holen. Danach war er der Letzte in der Reihe, hat sich umgedreht, gewinkt und gelächelt, und das war das letzte Mal, dass meine Mutter und ich Walter gesehen haben", schreibt sie in einem Brief an die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Angesichts der neuen Erkenntnisse zum Tod ihres Bruders sei sie "erschüttert und fassungslos" und könne ihre Gefühle nicht in Worte fassen.
Komplizierte Recherche
Auch die Mitarbeiter der Gedenkstätte sind "berührt und überwältigt", wie es Iris Groschek ausdrückt, die unter anderem die Ausstellung am Bullenhuser Damm kuratiert hat. Generell sei es sehr schwierig gewesen, die Namen und Schicksale der ermordeten Kinder zu rekonstruieren. "Und dass wir nach 70 Jahren tatsächlich noch die Geschichte eines weiteren Kindes erfahren, hätten wir nicht gedacht."
Denn die Hamburger Nazis um den Arzt Kurt Heißmeyer wollten kurz vor Kriegsende sämtliche Spuren ihrer Gräueltaten so weit wie möglich verwischen. Entsprechend konnte anfangs keines der erhängten Kinder identifiziert werden. Doch dann stießen die Rechercheure auf die Aufzeichnungen eines dänischen Ex-Häftlings aus dem KZ Neuengamme, wie Groschek berichtet. Der Zeitzeuge habe die Nachnamen sämtlicher für die medizinischen Experimente missbrauchten Kinder mit deren Alter und Herkunftsort notiert. Später fand sich eine von Heißmeyer verfasste Liste mit den Initialen der Mädchen und Jungen. "Und eines von ihnen wurde fortan eben als W. Junglieb bezeichnet."
Aus Junglieb wird Jungleib
Beim Notieren des Nachnamens hatte sich der dänische Zeitzeuge offenbar verschrieben. Denn als nun Bella Reichenbaum im Frühsommer dieses Jahres nach Spuren suchte, stieß sie auf der Liste eines Häftlingstransports von Auschwitz nach Lippstadt auf zwei Frauen mit dem Nachnamen Jungleib - und fand die Ähnlichkeit mit Junglieb zu stark, um darüber hinwegzusehen. Sie recherchierte weiter und entdeckte auf der Webseite der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem eine Erinnerungskarte, die einem Walter Jungleib gewidmet war - und auf der sich Angaben zu dessen Angehörigen finden. Per E-Mail kontaktierte Reichenbaum Grete Hamburg, die ihre Vermutung bestätigte. Seither steht Walter Jungleibs Schwester im Austausch mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. "Sie hat uns bereits einige Informationen und Fotos geschickt, sodass wir unsere Ausstellung bald um Walters Geschichte ergänzen können", sagt Groschek. Dann fehlt nur noch einem der 20 ermordeten Kinder vom Bullenhuser Damm ein Gesicht.
