Corona in SH: Experten raten zu Lockerungen
Mehr als ein Jahr nach der großen Expertenanhörung im Landtag hat der Sozialausschuss heute noch einmal Fachleute befragt. Die sehen positive Entwicklungen in der Pandemie. Der Fokus verschiebt sich nun aber auf andere Probleme.
Die Experten sind weitgehend dieselben wie im Herbst 2021. Doch die Lage ist eine andere. Damals ging es darum, welche Maßnahmen zur Eindämmung des Virus nötig sind. Heute sprechen sich die Experten in der Anhörung per Videoschalte einhellig für eine schrittweise Rücknahme dieser Maßnahmen aus. Eine "ganz massive Rückkehr zur Normalität" müsse erfolgen, sagt etwa Prof. Dr. Helmut Fickenscher vom Institut für Infektionsmedizin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (UKSH).
Klar ist für die Experten, dass es nicht mehr darum geht, jede Infektion zu erkennen. Das "exzessive Testen", sagt Fickenscher, sei deshalb auf längere Sicht nicht zielführend. Sprich: Getestet werden sollte nur noch bei Menschen mit Symptomen.
Perspektivisch nur noch vulnerable Gruppen schützen
Einigkeit besteht zwischen den Fachleuten auch darin, dass die Omikron-Variante nicht dafür gesorgt hat, dass die Krankenhäuser überlastet werden. Sie empfehlen daher, die Maßnahmen - wohlgemerkt schrittweise - zurückzunehmen. So, dass perspektivisch nur noch vulnerable Gruppen geschützt werden, etwa durch Hygienekonzepte im Pflegeheim oder die Isolierung von Covid-Patienten im Krankenhaus. Auch die Maskenpflicht zählt zu den Maßnahmen, die aus Sicht der Mediziner noch am ehesten längerfristig erhalten werden sollte.
Infektionen weniger gravierend als Einschränkungen
Weil Schleswig-Holstein als erstes Bundesland von der Omikron-Welle erfasst wurde, gingen die Zahlen hier im Land auch zuerst zurück. "Deshalb sollten hier auch die ersten Lockerungsschritte unternommen werden", sagt Dr. Anne Marcic, Referatsleiterin Infektionsschutz im Gesundheitsministerium: "Wenn wir das nicht machen, wer soll es dann tun?" Das Virus sei nicht mehr gravierend, weil es auf eine geimpfte Bevölkerung treffe, sagt sie.
Politiker und Fachleute müssen seit Beginn der Pandemie abwägen: zwischen Infektionsschutz und möglichen Auswirkungen der Maßnahmen. Jetzt sagt Marcic: "Man kann sagen, dass die Auswirkungen der Infektionen inzwischen weniger gravierend sind als die Auswirkungen der Nebeneffekte."
Kinder selbst vulnerable Gruppe

Besagte Nebeneffekte sind etwa die Belastungen für Kinder und Jugendliche. Sie seien selbst eine vulnerable Gruppe, sagt Prof. Dr. Philip Rosenstiel, Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie am UKSH: "Nicht, weil sie jetzt einen besonders schweren Covid-Verlauf haben, sondern weil sie tatsächlich durch diese Pandemiemaßnahmen auch beeinflusst werden in ihrer normalen gesundheitlichen Entwicklung."
Wie stark das geschieht, erklärt dann Prof. Kamila Jauch-Chara, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Zentrum für Integrative Psychiatrie am UKSH. Einerseits sieht sie unmittelbare Pandemie-Folgen wie Ängste oder Stress bei den Jüngeren - aber sie warnt auch vor langfristigen Folgen für die gesamte Gesellschaft.
Gerade im Übergang zum Erwachsenenalter seien Kinder besonders verletzlich. "All das, was die Kinder jetzt nicht erworben haben, was sie eventuell an Unsicherheiten, Stressanfälligkeit, vielleicht auch an destruktiven Bewältigungsstrategien beim Umgang mit Stress gelernt haben, das wird später umgesetzt", sagt Jauch-Chara.
Mehr Angebote für Kinder nötig - und für die Eltern
Weil schon jetzt nicht genügend klinische Behandlungsangebote für Kinder und Jugendliche verfügbar sind, rät die Expertin dazu, auch niedrigschwellige Angebote zu schaffen. Um zu verhindern, dass eine psychische Belastung am Ende zu einer psychischen Erkrankung wird. Jauch-Chara bemängelt, dass es dafür aber keine klaren Zuständigkeiten gibt.
Sie fordert bundesweite Präventionsprogramme an Schulen und Kitas: "Wir müssen dahin, wo die Kinder und Jugendlichen jetzt sind - und wir müssen jetzt aktiv werden." Und auch Unterstützungsangebote für Eltern sind aus Sicht der Expertin nötig, denn "sie werden sich mit Problemen auseinandersetzen müssen, die jetzt jenseits der normalen familiären Versorgung liegen".
Und es gibt weitere Corona-Nachwehen, die die Experten schon jetzt sehen: etwa verschobene Operationen in den Krankenhäusern oder wirtschaftliche Schäden durch Quarantäne - auf die weist Prof. Dr. Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel hin.
Erwartungen an Bund und Länder
Der Ruf nach Lockerungen der Corona-Maßnahmen wird in der Anhörung auch von Juristinnen unterstützt - wie etwa der ehemaligen Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts. Auch Frank Roselieb, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Krisenforschung, sagt, der Staat habe geliefert, der Impfstoff sei da - und damit sei es bald Zeit, die Pandemie in die "Eigenverantwortung" zurückzugeben: "Länger würden die Menschen das auch nicht tragen. Weil sie natürlich nicht erwarten, etwas von Einschränkungen zu hören, sondern die Begründung dafür zu hören, dass sie immer noch eingeschränkt leben müssen."
Auch fordert Roselieb von der Bundespolitik eine klare Perspektive. Die Menschen wollten "gar nicht mehr wissen, wie es jetzt in den nächsten Wochen weitergeht, sondern die schauen wirklich in den Herbst und Winter." Gespannt blicke er deshalb auf die Bund-Länder-Runde am Mittwoch.
Abgeordnete suchen den Rat der Experten
Die Abgeordneten des Sozialausschusses waren einmal mehr dankbar für die Einschätzungen der Experten. Hans Hinrich Neve, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, sagte: "Die Ausführungen der Fachleute in der heutigen Anhörung haben die bisherige Arbeit der Landesregierung in ihrem Handeln in Sachen Pandemie bestätigt - und sogar ausdrücklich gelobt."
Die SPD bemängelt, dass die Berufsgruppe der Pflege nicht bei der Anhörung vertreten war. Die Hinweise der Experten werde man ernst nehmen und beraten, so die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD, Birte Pauls.
Für Claus Schaffer von der AfD dagegen ist klar: Die Experten hätten bestätigt, "was wir von der AfD seit Wochen sagen."
FDP und Grüne betonen, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist und vulnerable Gruppen weiter geschützt werden müssen. Marret Bohn von den Grünen meint, man wisse nicht, "welche Virus-Varianten noch auf uns zukommen. Die Situation im Gesundheitswesen sollten wir deshalb weiterhin im Blick haben. Wichtig ist, dass wir gut vorbereitet in den Herbst gehen."
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