Bahn in Personalnot: Warum in SH so viele Züge ausfallen

Stand: 14.11.2022 05:00 Uhr

Seit Wochen ist auffällig, dass besonders viele Zugverbindungen ausfallen. Die Deutsche Bahn sagt: Es liegt an den Krankheitsausfällen. Doch das Problem sei komplexer, berichten ein Lokführer und die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL).

von Maja Bahtijarević und Sören Gerhardt

Es läuft gerade nicht gut bei der Deutschen Bahn in Schleswig-Holstein. Tag für Tag fallen Verbindungen aus, das Unternehmen muss auf einigen Strecken auf Busse umsteigen. Doch viele Zugfahrende kommen oft erstmal gar nicht vom Gleis los.

"Der Zug fällt aus. Grund: Erhöhter Krankenstand beim Fahrpersonal", solche Meldungen gibt die DB Regio Schleswig-Holstein aktuell mehrfach raus, zum Teil weit mehr als 100 Mal täglich. Es liegt an kurzfristigen Krankheitsfällen und einem erhöhten Krankenstand beim Personal, schreibt das Unternehmen auf Twitter.

Lokführer: Personalnot hat wenig mit Krankheit zu tun

Es liegt an der Überbelastung, mangelnder Personalplanung und zu später Reaktion des Unternehmens, sagt Lokführer Fabian Fenner. Er ist bereit, zu erzählen - besonders von der Arbeitsbelastung und seiner Sicht darauf, woran das Problem in seiner Branche liegt. "Im Moment ist es sehr angespannt, weil die Personaldecke sehr dünn ist", sagt Fenner an einem Morgen am Kieler Bahnhof, nachdem er gerade eine Nachtschicht beendet hat. "Das hat weniger mit Corona oder kurzfristigen Erkrankungen zu tun, sondern das sind Auswirkungen, die wir seit Jahren spüren."

Viel Arbeit, wenig Kolleginnen und Kollegen - auch, weil zum Beispiel die Arbeitszeiten nicht attraktiv seien: Dann, wenn andere beispielsweise zu Weihnachten oder Ostern verreisen, müssen Lokführer am Schalthebel sitzen, hatte ein anderer Kollege NDR Schleswig-Holstein berichtet. Wenn die Situation zusätzlich besonders anstrengend ist - weil die Verbindungen etwa durch Feiertage oder das 9-Euro-Ticket ungewöhnlich hoch beansprucht sind und nicht genug zusätzliche Kapazitäten geschaffen wurden - stehen Bahnmitarbeitende im Zentrum der Belastung.

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Mehr Schichten, weniger Ruhephasen

Fabian Fenner hatte zwischenzeitlich bis zu 600 Überstunden angesammelt - und damit sei er kein Einzelfall, sagt er. Die Überstunden auszugleichen ginge zwar theoretisch, praktisch sei das aber nicht umsetzbar. "Mit der Jahresarbeitszeit, die wir haben, ist es möglich, auch einzelne Tage freizunehmen", erklärt er und meint damit: Wenn das Soll an Jahresarbeitsstunden erreicht ist, könne man eine Art Freizeit-Ausgleich machen. "Das ist jetzt natürlich nicht möglich." Dadurch gebe es eine Mehrbelastung, die auch daraus resultiere, dass mehr Schichten abzureißen seien, die Schichten selbst verlängert und damit gleichzeitig Ruhephasen verkürzt würden. Die Verantwortung dafür sieht er klar bei der Deutschen Bahn. "Mangelnde Personalplanung" ist für Fenner ein zentraler Grund für die Misslage: "Man wollte sich insgesamt nicht eingestehen, dass man zu wenig Personal hat. Man hat zu spät zu wenig umgesteuert und neue Kollegen ausgebildet."

GDL: Massiver Personalabbau über Jahre

Um die Ursache des aktuellen Problems zu erklären, blickt auch die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) einige Zeit in die Vergangenheit zurück - zur Privatisierung 1994, als Bundesbahn und Reichsbahn zur Deutschen Bahn zusammengelegt wurden. Laut Geschäftsbericht 1994 beschäftigte der Konzern Anfang 1995 noch gut 370.000 Menschen. "Man hatte viel zu viel Personal", sagt Gerda Seibert, Pressesprecherin der GDL. Das sei dann jahrelang abgebaut worden, die Belegschaft in Deutschland fast halbiert, Strecken stillgelegt. "Es stand immer alles auf Abbau. Man wollte an die Börse, man wollte eine schlanke Bahn. Das war ein großer Fehler, den wir jetzt mühevoll ausbaden müssen."

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GDL: Problem ist ein Dauerbrenner

Dann, vor etwa ein zwei Jahren, habe es dem Unternehmen gedämmert: Nicht nur bei den Lokführern, sondern quer durch die Belegschaft wurden die Lücken deutlich. Das Problem sei also nicht neu, so Seibert, kein singuläres Problem, eher "ein Dauerbrenner". Es trete immer mal mehr oder weniger in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit, offenbar immer dann, wenn sich die Lage besonders zuspitzt. Sie hält es für möglich, dass es gerade jetzt wieder stark auffällt, weil die Mehrbelastung durch die Monate des 9-Euro-Tickets noch frisch ist.

Manche Eisenbahner bewerben sich weg

Lokführer Fenner sieht noch einen weiteren Faktor als relevant an: den Ausschreibungswettbewerb im Regionalverkehr. Die Nahverkehrsbund Schleswig-Holstein GmbH (NAH.SH) koordiniert im Auftrag des Landes die Ausschreibung, die entscheidet, welches Unternehmen welche Strecke in Schleswig-Holstein befahren darf. So werden die Verbindungen im Land von der DB Regio, der Nordbahn, der AKN, im Norden der NEG und der dänischen Arriva, im Süden in Teilen von der Hamburger S-Bahn ausgeführt - wobei die DB Regio mit Abstand die meisten Streckenkilometer betreibt. Ab Dezember geht ein Teil, die Verbindung Kiel-Lübeck, durch die aktuelle Ausschreibungsrunde von der DB Regio an Erixx über, eine Tochter des Unternehmens OHE.

Manche Lokführer würden übernommen, aber auch das entspreche nicht immer der eigenen Vorstellung - viele wollen im DB-Konzern bleiben, berichtet Fenner. So suchen sie eine neue Anstellung in anderen Unternehmensteilen, beispielsweise im Fernverkehr. "Lokführer und Zugbegleiter wachsen in ganz Deutschland nicht auf Bäumen, und die orientieren sich dann neu um." Aber er kritisiert ganz deutlich auch die Kommunikation im Unternehmen, denn es sei nicht klar mitgeteilt worden, welche Mitarbeiter wo übrig blieben und welche übernommen werden. "Hier wird einfach mit der Angst der Mitarbeiter gespielt."

Die Bahn bleibt dabei: Kurzfristige Krankheit sei der Hauptgrund

Die Deutsche Bahn antwortete auf Fragen des NDR Schleswig-Holstein zur Personalsituation nur schriftlich, mit dem gleichen Text, den es bereits in der vergangenen Woche verschickt hat. Darin heißt es: "Wie viele Unternehmen in Deutschland ist auch die DB weiterhin von kurzfristigen Krankheitsfällen, darunter auch Coronafälle, betroffen, was sich regional auswirken kann."

Fenner sagt, das habe nicht immer etwas mit Kurzfristigkeit zu tun - und nennt als Beispiel die Linien RB 76 von Kiel Hbf zur Station Kiel Schulen am Langsee: "Wir fahren ja die Strecke nach Kiel-Oppendorf schon seit Monaten eher nur sporadisch, da ist eher der Bus unterwegs." Das seien die Personalprobleme, die man jetzt zugespitzt sehe. "Wir laufen jetzt aufs Jahresende zu, viele Kollegen haben ihre Zeiten fertig, und die nehmen sich jetzt das Recht, zu Hause zu bleiben", sagt Fenner.

Fachkräftemangel belastet die Branche

Als Blick in die Zukunft führt die Bahn in ihrer schriftlichen Mitteilung an, in den vergangenen Jahren habe es fast 100.000 Einstellungszusagen gegeben, seien insgesamt 19.000 Stellen bei der Eisenbahn in Deutschland zusätzlich aufgebaut und die Ausbildungsplätze um 60 Prozent erhöht worden. "Die Bahn stellt ein, das ist richtig", bestätigt Gerda Seibert von der GDL. "Sie brüstet sich mit Neueinstellungen." Bloß seien die Stellen offenbar in anderen Bereichen besetzt worden als dort, wo es nötig war, um die aktuellen Probleme aufzufangen. Und das dürfte sich in baldiger Zukunft auch nicht so schnell ändern: Auch diese Branche kämpft mit Fachkräftemangel. "Die DB steuert hier aktiv gegen, unter anderem mit einer Task Force Personal und kurzfristigen zusätzlichen Einstellungen", schreibt die DB in ihrer Antwort auf die NDR Anfrage. Ziel sei es, beim Personal noch robuster und resilienter zu werden.

"Wir haben gerade mehr als 20.000 Lokführer, die gehen bald in die Rente - die muss man dann auch ersetzen", sagt GDL-Pressesprecherin Seibert. Der Chef des Bezirks Nord der Gewerkschaft, Hartmut Petersen, sieht die Hoffnung im Nachwuchs: "Wir brauchen mehr Ausbildung, wir müssen die jungen Menschen erreichen, die von vornherein eine Ausbildung machen zum Lokomotivführer oder zum Zugbegleiter, in der Werkstatt der Bahn, um hier für die Zukunft gewappnet zu sein." Doch: Es ist ja kein neues Problem - wie kann das jetzt gelingen? "Wenn man die Arbeitsbedingungen attraktiver machen würde, dann würde es sicher besser gehen", meint Seibert.

GDL: Bahn muss sich um Nachwuchs bemühen

GDL-Mann Petersen, der sich als Eisenbahner mit Herz und Seele versteht, findet, der Beruf sei schon sehr attraktiv: Er habe eine sehr gute Zukunftsperspektive, der Schichtdienst habe auch Vorteile und vor allem in der Mobilitätswende und Klimakrise gewinne er große Bedeutung. "Ein Eisenbahn-Gen zu haben, hilft da schon", meint Petersen, "aber es ist hochinteressant. Man hat mit Technik zu tun, man hat mit Menschen zu tun, man tut was für die Umwelt." Da sieht er klar die Bahn in der Pflicht, sich um die Jugend zu bemühen - zum Beispiel mit Infoveranstaltungen in Schulen. Und: Er wirft dem Unternehmen große Versäumnisse vor. "Wenn ich mir angucke, was da mit diesem Laden los ist, dann ist man froh, wenn man seine Schicht zu Ende hat", sagt Petersen, "und so geht es fast allen inzwischen. Es findet gar keine Identifikation damit statt - und es geht keiner mehr nach Hause und interessiert seine Kinder für den Beruf."

Lokführer Fenner arbeitet auch künftig weiter im Führerstand. "Mein Arbeitsplatz hier in Kiel bleibt erhalten", sagt er. "Aber die Arbeitsbelastung steigt natürlich - umso weniger Personal da ist, umso mehr müssen die verbliebenen Mitarbeiter leisten."

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 09.11.2022 | 19:30 Uhr

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