Eine aus der Ukraine geflüchtete Frau sitzt mir ihrer Tochter an einem Tisch. © picture alliance / ANP Foto: Catrinus van der Veen

Grundsicherung für Geflüchtete: Zwei-Klassen-Recht?

Stand: 20.06.2022 14:05 Uhr

Seit Monatsbeginn haben Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Anspruch auf Hilfe vom Jobcenter. Der Sonderstatus stößt auf Kritik. Der Flüchtlingsrat fordert gleiche Rechte für alle Geflüchteten.

von Christina Harland

 

Sandra Lüke vom Jobcenter der Region Hannover versucht es auf Englisch und notfalls mit Händen und Füßen. Der Dolmetscher wird gerade woanders gebraucht. Mit zwei Kolleginnen aus Garbsen informiert sie eine Gruppe geflüchteter Frauen, darunter auch ein paar Männer, dass sie ab sofort Kunden des Jobcenters sind. Die Unterkunft, ein Hotel an der Autobahn-Raststätte in Garbsen, gehört zu den ungewöhnlicheren Einrichtungen, die sie dieser Tage aufsucht. Seit Wochen ist sie unterwegs, um ukrainischen Kriegsflüchtlingen die deutsche Bürokratie zu erklären: "Die Gruppeninformationen sind für uns wichtig, um die Geflüchteten zu erreichen. Dass sie wissen, welche Leistungen bietet das Jobcenter an? Wenn Sie beispielsweise einen Arztbesuch hatten, mussten sie vorher immer wieder zum Sozialamt gehen und sich einen Krankenschein holen, und das ist wichtig, dass sie jetzt wissen, dass wir sie krankenversichern."

Komplizierte Bürokratie

Yelyzaveta Hutsol aus Odessa tippt auf eine Unterlage in ihrer dicken Dokumentenmappe. Immer wieder musste sie für solche Krankenscheine im Sozialamt anstehen. Die 24 Jahre alte Schiffsbauingenieurin aus Odessa versteht die deutsche Bürokratie nicht: "Es ist so ermüdend, drei Monate bin ich jetzt hier und immer nur warte ich auf Dokumente. Es ist alles sehr kompliziert."

Bessere Unterstützung für Klienten der Jobcenter

Künftig ist sie über das Jobcenter krankenversichert. Sie bekommt Grundsicherung wie eine Hartz-IV-Empfängerin, also Geld für Essen, Kleidung und Miete. Und sie darf sich mit Hilfe des Jobcenters Arbeit suchen, bekommt Integrationskurse. Sandra Lüke verspricht den Frauen: "Jetzt bekommen Sie alle Hilfe aus einer Hand, und Sie haben einen festen Ansprechpartner."

Grundsicherung war Kompromiss zwischen Bund und Ländern

Bund und Länder hatten sich Anfang April darauf geeinigt, dass Geflüchtete aus der Ukraine schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten sollten. Sie werden nun behandelt wie anerkannte Flüchtlinge, allerdings ohne Asylverfahren. Die Kosten teilen sich Bund, Länder und Kommunen über ein kompliziertes Umlageverfahren. Den Löwenanteil zahlt der Bund. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) lobte die Einigung als fairen Kompromiss.

Flüchtlinge erster und zweiter Klasse?

Kai Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat staunt, was möglich ist, wenn der politische Wille da ist. In kürzester Zeit sei es gelungen, gesetzliche und verwaltungstechnische Maßnahmen zu ergreifen, um tausenden Opfern von Krieg und Verfolgung unbürokratisch Aufenthaltssicherheit, eine Wohnung, Arbeitsangebote und soziale Leistungen zu vermitteln. Dass die ukrainischen Geflüchteten aber anders als andere Geflüchtete so schnell vom Asylbewerberleistungsgesetz in die Grundsicherung wechseln dürfen, kritisiert er als zwei-Klassen-Recht: "Wir fragen uns, warum die ergriffenen Maßnahmen nicht auch auf andere Schutzsuchende angewandt werden, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung in Deutschland ankommen. Von der Bundes- und Landesregierung fordern wir daher eine Neuorientierung der Flüchtlingspolitik", sagt Weber. Die im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten praktizierte Willkommenspolitik solle als Blaupause dienen, um die Asyl- und Flüchtlingspolitik grundlegend neu zu gestalten.

Landkreise sorgen sich um Wohnraum für Geflüchtete

Auch die niedersächsischen Landkreise üben scharfe Kritik. Gut gemeint sei nicht gut gemacht, kritisieren sie. Joachim Schwindt, Geschäftsführer des Landkreistags: "Eigentlich war der Systemwechsel zu früh und nicht der richtige Schritt. Hauptproblem ist das Thema Unterkunft. Als Kunde des Jobcenters muss ich mir selbst meine Unterkunft suchen, das können viele Ukrainerinnen und Ukrainer noch nicht. Insofern hätten wir es alle zusammen, Städte, Landkreise, Gemeinden in Niedersachsen, besser gefunden, man hätte das bisherige System in Niedersachsen nach dem Aufnahmegesetz noch ein paar Monate weitergeführt."

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Neuregelung überfordert Städte und Gemeinden

Solange die Geflüchteten unter das Asylbewerberleistungsgesetz fielen, hatten die Landkreise die Verantwortung, Sammelunterkünfte bereit zu stellen. Jetzt müssen die Städte und Gemeinden Unterkünfte bereitstellen, um zu verhindern, dass Geflüchtete, die noch keine Wohnung haben, obdachlos werden. Viele Gemeinden, sagt Schwindt, hätten aber schlicht keine Unterkünfte in der nun benötigten Zahl und seien auch nicht ausgelegt auf Familien. Vermutlich würden deren Unterkünfte jetzt trotz formal fehlender Zuständigkeit der Not halber weiter genutzt, damit die Menschen nicht auf der Straße landeten.

Papiermangel in Bundesdruckerei gefährdet Geldzahlung

Damit nicht genug, kritisiert Schwindt, gefährde der Bund aktuell selbst unnötig eine schnelle Abwicklung der Ansprüche. Grund sei ausgerechnet ein Papiermangel in der Bundesdruckerei. Dabei geht es um den Druck der vorläufigen Aufenthaltserlaubnis, der sogenannten Fiktionsbescheinigung. Damit neuankommende Ukrainerinnen und Ukrainer Kunden des Jobcenters werden können, müssen sie diese vorlegen. "Das Problem ist", erklärt Schwindt, "seit dem 1. Juni darf man die nur auf einem Vordruck der Bundesdruckerei ausstellen. Zuvor durften wir uns auch selbst behelfen. Das hat der Bund ausdrücklich verboten, und nun gibt es genau da einen Lieferengpass."

Warten macht mürbe

Für die meisten Menschen in der Unterkunft an der A2 in Garbsen geht das Warten damit weiter. Ein schwer auszuhaltender Schwebezustand. Die 20-jährige Jennifer Kuzmenko aus Charkiv war als Jurastudentin gerade ins Leben gestartet, als der Krieg ihr alles zerstörte. Jetzt sitzt sie mit ihrer Mutter im Gastraum der Raststätte und sagt: "Wir haben keine Pläne. Alles hat sich verändert, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich suche erstmal einen Raum, wo wir bleiben können, dann einen Job und vor allem endlich mal jemanden, mit dem ich reden kann."

Viele Erwartungen, große Hoffnungen

Sandra Lüke und ihre Kolleginnen müssen an diesem Tag noch viele Fragen beantworten. Der Dolmetscher ist ein gefragter Mann, der Google-Übersetzer eine große Hilfe. Die Erwartungen an die Frauen vom Jobcenter sind groß, die Hoffnungen auch. Lüke verbreitet Optimismus. "Wir sind personell gut gerüstet, haben die Pandemie gemeistert, wir haben Erfahrungen aus der Fluchtbewegung 2015/16, aus der wir profitieren, deswegen werden wir das das gut geregelt bekommen, und es ist natürlich für die Geflüchteten sehr schön, die Leistungen aus einer Hand zu haben: Arbeitsvermittlung und auch die Geldleistungen."

Es geht um nichts weniger als eine Zukunft für Menschen, die in ihrer Heimat vorerst keine Zukunft mehr sehen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Hannover | 17.06.2022 | 15:00 Uhr

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